Dialog und Vielfalt im Islamischen Recht: AIWG Longterm-Forschungsgruppe lädt zu Workshop
Am 06. und 07. Mai 2022 kamen Wissenschaftler_innen aus der ganzen Welt digital zusammen, um in einem Workshop zur Normativität in islamischen Rechtsdiskuren zu diskutieren. Die AIWG Longterm-Forschungsgruppe „Normativität des Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels“, vertreten durch Prof. Dr. Mouez Khalfaoui am Standort Tübingen, hatte zu diesem Workshop eingeladen, um die Ergebnisse des Forschungsschwerpunkts „Islamisches Recht“ zu präsentieren und aus interdisziplinärer Perspektive zu reflektieren.
Insgesamt zehn Referent_innen stellten ihre Forschungsergebnisse einem Publikum aus über 80 Wissenschaftler_innen, Studierenden und Aktivist_innen vor. In seiner Begrüßung erinnerte sich Prof. Dr. Mouez Khalfaoui, dass die Diskussionen des Workshops in dieser Form vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen wären. Wichtig sei hierbei, dass der Transfer in die Gesellschaft gelinge, damit die akademischen Erkenntnisse auch in der religiösen Praxis umgesetzt würden. Prof. Dr. Mouez Khalfoui unterstrich dabei die besondere Rolle, die hierbei Aktivist_innen zukomme, da diese sich für die Reformierung konservativer Auslegungen im islamischen Recht einsetzten.
AIWG-Direktor Prof. Dr. Bekim Agai dankte in seiner Begrüßung der Forschungsgruppe für die Arbeit, die mit der Umsetzung dieser Veranstaltung einherging. Die Forschungsgruppe schlage mit ihrem Forschungsschwerpunkt neue Wege der Auslegung und Anwendung von normativen Versen ein.
Die Teilnahme der drei interdisziplinären Fellows aus der Longterm-Forschungsgruppe war sehr bereichernd für den Diskurs rund um die Normativität des Korans in islamischen Rechtsdiskursen. Prof. Dr. Adis Duderija von der Griffith University Queensland in Australien diskutierte die Auffassung verschiedener Gelehrter zur dialektischen Natur des Korans, die dessen Betrachtung als geschlossenen Text den Rang ablaufen soll. Durch eine Fokussierung auf das zielorientierte Wesen des Korans gelinge es, über wörtlich zu verstehende Normen hinauszugehen und stattdessen moralische Zielrichtungen abzuleiten.
Prof. Dr. Sa‘diyya Shaikh von der University of Cape Town aus Südafrika beleuchtete die Normativität, die in jeder dualistischen Lesart des Korans vorhanden ist, wenn es um die Ableitung einer Auffassung von Geschlechterrollen geht. Sowohl die konservative als auch die feministische Lesart gehe davon aus, dass der Koran normativ ist. Der Koran ist für viele also entweder normativ patriarchalisch oder normativ feministisch. Prof. Shaikh schlägt darum eine interaktive Herangehensweise an den Koran vor. Die Auslegung des Korans wird dabei als Dialog zwischen Text und Lesenden verstanden, bei dem grundsätzlich mehrere Auslegungen möglich sind.
Prof. Dr. Justin Jones von der Oxford University lieferte schließlich Einblicke in konkrete Versuche von Frauenrechtsaktivist_innen in verschiedenen Ländern, gendergerechte Auslegungen des Korans in der religiösen Praxis zu vermitteln. Am Beispiel des Eherechts in Indien hat Prof. Jones die jüngsten Erfolge von Aktivist_innen in der religiösen Praxis aufgezeigt. Auf Grundlage einer feministischen Auslegung der Primärquellen haben sie eine Vorlage für islamische Eheverträge (Nikah Nama) erstellt, die Frauen ihre Rechte zusichert. Viele religiöse Einrichtungen nutzen das Formular bereits.
Die Frage nach der Umsetzung der vorgestellten Auslegungen prägte die Diskussionen besonders stark. Für Prof. Dr. Fahimah Ulfat, die im Projekt den Schwerpunkt Islamische Religionspädagogik leitet, ergab sich vor allem die Frage nach den Herausforderungen, die entstehen, wenn Interpretationen von Normversen fluide werden.
Die Forschungsgruppe arbeitet derzeit an der Fertigstellung eines Sammelbandes, in dem die Erkenntnisse aus vier Jahren Forschung in drei Themenschwerpunkten festgehalten werden.
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