Mit ihren Abschlusspreisen für exzellente Dissertationen sowie Master- oder Examensarbeiten der islamisch-theologischen Studien möchte die AIWG die Sichtbarkeit von Forschungsergebnissen innerhalb des Faches, des Wissenschaftssystems sowie der Öffentlichkeit erhöhen. Gewürdigt werden Arbeiten, die sich durch eine herausragende Leistung für das jeweilige Forschungsfeld der Arbeit, der Beitrag für die wissenschaftliche Konsolidierung der islamisch-theologischen Studien sowie der Beitrag für fachliche, interdisziplinäre oder gesellschaftliche Diskurse.
Alle Preisträger_innen
Musab Tezci
„Die Notwendigkeit der Kausalität. Al-Ġazālī vs. Ibn Rušd und Hume vs. Kant“, angefertigt am Zentrum für Islamische Theologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Musab Tezci kam 1991 in Lünen zur Welt. Nach seinem Abitur leistete er zunächst den Grundwehrdienst und schloss 2013 seine Ausbildung zum Rettungsassistenten ab. Aufgrund seines Interesses für geisteswissenschaftliche Diskurse entschloss er sich, neben der Tätigkeit im Rettungsdienst, Philosophie und Islamische Religionslehre zu studieren und gab die erstgenannte Tätigkeit für die Möglichkeit des intensiveren Studiums nach kurzer Zeit auf. Das große Interesse für islamische und philosophische Inhalte und sein Bestreben, diese angeblich gegensätzlichen Bereiche in seinem Denken und Leben zu vereinbaren, ermöglichten es ihm, das fünfjährige Regelstudium in vier Jahren abzuschließen. Seine Masterarbeit stellt einen Vergleich eines klassisch-islamischen und eines europäisch-neuzeitlichen Diskurses zur Kontroverse über die Notwendigkeit der Kausalität dar.
Abstract
Der vorliegende Vergleich der Kontroverse zwischen Hume und Kant über die Notwendigkeit der Kausalität aus dem 18. Jh. – die nach eigener Angabe Kants richtungsweisend für seine Kritik der reinen Vernunft war – mit dem Diskurs zwischen al-Ġazālī und Ibn Rušd über denselben Gegenstand im 11.-12. Jh. legt seinen Fokus u. A. auf die Argumentationen der Protagonisten sowie auf den Doppelcharakter des Begriffs der Notwendigkeit als (1) modale Kraft und (2) Bedingung für ein notwendig anzunehmendes Bedingtes. Das Ergebnis dieses Vergleichs beschreibt, dass nicht nur die grundlegende formale Struktur, sondern auch der Inhalt der Kritik Humes vielzählige Parallelen zur Argumentation al-Ġazālīs aufzeigt. Beide Denker kritisieren die Notwendigkeit der Kausalität im Hinblick auf die modale Kraft der Ursache. Gleiches lässt sich auch für die Verteidiger der Notwendigkeit der Kausalität attestieren. Ibn Rušd und Kant zeigen grundlegende Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Struktur und Inhalt ihrer Argumentation auf und berufen sich bei der Apologie auf die Unentbehrlichkeit der Bedingung für ein notwendig anzunehmendes Bedingtes. Dieses Ergebnis wird interpretiert als ein Aufruf zur Bereitschaft zum Austausch verschiedener Zugänge und als Darstellung des Mehrwerts eines gemeinsamen Diskurses. Herausragend ist die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand in einem gemeinsamen Kontext und einer gemeinsamen Sprache, die scheinbar unvereinbare und vermeintlich gegensätzliche Zugänge vereint.
Laudatio
In seiner Masterarbeit beschäftigt sich Herr Musab Tezci mit dem Diskurs zwischen Hume und Kant über die Notwendigkeit der Kausalität; eine Kontroverse zwischen zwei Vordenkern der Aufklärung verortet in der neuzeitlichen Philosophie. Genau dieselbe Frage haben bereits zwei andere Denker 700 Jahre früher diskutiert: Al-Gazali und Ibn Rusd. Herr Tezci stellt eben diese beiden gedanklich parallelen Diskurse gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass die übliche Verortung der philosophischen Aufklärung in das Europa des 17. und 18. Jahrhunderts und ihrer Themen erweitert werden kann. Für eine Masterarbeit ist dies bereits eine außergewöhnlich grundlegende Schlussfolgerung.
Es ist darüber hinaus beachtenswert, wie Herr Tezci seine eigene Arbeit als Beispiel für Interkulturelle Philosophie versteht und herausstellt, dass philosophische Fragestellungen verschiedener Denker in unterschiedlichen Traditionen und zeitlichen Kontexten beschäftigen und sich daher ein multiperspektivischer Ansatz für die Analyse ihrer Arbeiten anbietet. Dies folgt dabei in keiner Weise apologetischen Erwägungen, sondern zeigt die Möglichkeiten und Grenzen zeit- und kulturübergreifenden wissenschaftlichen Arbeitens auf und zeigt ferner, dass existenzielle Fragen sich eben nicht auf die westliche Moderne reduzieren lassen. Dies ist insbesondere für exklusivistische Diskurse von Muslimen und gegen Muslime eine wichtige Erkenntnis.
Herr Tezcis Arbeit ist gekennzeichnet durch methodische Strukturiertheit, inhaltliche Klarheit und eine kritische Auseinandersetzung mit den begrifflichen Argumenten sowie eine überzeugende Untersuchung der Quellen. Es ist ihm in bemerkenswerter Weise gelungen, beide Diskurse nachzuvollziehen und ihre gedanklichen Parallelen herauszuarbeiten.
Prof. Dr. Bekim Agai, Direktor der AIWG
Dr. Nimet Şeker
„Der Koran als Rede und Text – Hermeneutik sunnitischer Koranexegeten zwischen Textkohärenz und Offenbarungskontext“, angefertigt am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam, Goethe-Universität Frankfurt.
Dr. Nimet Şeker studierte an der Universität zu Köln Islamwissenschaft, Germanistik und Ethnologie. Nach dem Magisterabschluss war sie zunächst mehrere Jahre als Journalistin und Redakteurin tätig und schrieb unter anderem für das Islamportal‘ Qantara.de‘. Ihre Promotion im Bereich Koranexegese schloss sie im Februar 2017 ab. Als Dozentin in der Lehre war sie an der Universität zu Köln, der Universität Freiburg/Schweiz und der Goethe-Universität Frankfurt tätig. Von 2017 bis 2019 forschte sie in der Post-Doc-Gruppe „Oralität und Auralität des Korans“. Derzeit ist sie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Vertretungsprofessorin für Kultur und Gesellschaft des Islam in Geschichte und Gegenwart. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Alhambra Gesellschaft e. V. und Teilnehmerin der Deutschen Islamkonferenz der Legislaturperiode 2017–2021.
Abstract
Ausgehend von der kommunikationstheoretischen Überlegung, dass der Koran als eine ursprünglich mündliche Offenbarung nach dem Ableben des Propheten Muhammad zu einer kanonischen Schrift wurde, stellt sich die Frage, wie sich die Koranhermeneutik auf dieser Grundlage entwickelt hat. Wie haben Exegeten den Koran einerseits als einen in sich kohärenten, kanonischen Text und zugleich als eine auf seinen Offenbarungskontext bezogene göttliche Rede ausgelegt? Dazu werden hermeneutische Voraussetzungen und Methoden der Koranexegese in ausgewählten sunnitischen Quellen der uṣūl at-tafsīr und ʿulūm al-qurʾān untersucht. Zur Einordnung der Fragestellung werden zeitgenössische Lesestrategien des Korans aus einer literaturtheoretischen Perspektive, die Genese des Korantexts sowie aktuelle Fragen der Koranhermeneutik erörtert. In diesem Zusammenhang diskutiert die Arbeit das Geschichtsverständnis muslimischer Koranexegeten und zeigt anschließend methodische und offenbarungstheologische Spannungsfelder in ihrem Denken auf. Damit richtet sich die Arbeit ‚Der Koran als Rede und Text. Hermeneutik sunnitischer Koranexegeten zwischen Textkohärenz und Offenbarungskontext‘ an interessierte Leserinnen und Leser aus der Theologie und Textwissenschaft, insbesondere der Hadithwissenschaft und Koranexegese.
Die veröffentlichte Dissertation von Dr. Nimet Şeker finden Sie hier.
Laudatio
Der Koran ist zunächst eine mündliche Offenbarung, ein Sprechakt, aber durch seine Verschriftlichung gleichzeitig auch ein kanonischer Text. Genau zu dieser Doppelrolle und ihre Auswirkungen auf frühe klassische Koraninterpretationen hat Frau Dr. Nimet Şeker promoviert. Die Absicht war es aufzuzeigen, dass diese Interpretationen und ihre Ansätze selbst nicht unumstößlich und untereinander einheitlich sind, sondern durch Varianz in Prämissen und Methoden auffallen, die uns heute manchmal die Augen reiben lässt. Frau Şeker demonstriert, dass für eine Koranexegese mit wissenschaftlichem Anspruch diese klassischen Quellen kritisch ausgewertet und in ihren jeweiligen Diskurskontext eingeordnet werden müssen, bevor sie als Referenztexte zugrunde gelegt werden können. Zur Erörterung dieses Themenfelds entwickelte Frau Şeker eine Quellenstudie der klassischen sunnitischen Koranexegesen. Darauf aufbauend evaluierte sie theologische und textwissenschaftliche Aspekte dieser klassischen Interpretationstradition.
Ihre Arbeit stellt damit einen beeindruckenden Beitrag zur Grundlagen- und Quellenforschung sowie eine neuartige Methodologie im Bereich der Koranexegese selbst dar. Außerdem liegt in ihr eine beachtliche Leistung mit Relevanz für die zeitgenössische Diskussion über die Geschichtlichkeit des Korans und die Anwendung historisch-kritischer Methodik. Als Teil der notwendigen Grundlagenforschung zur Koranhermeneutik und im Hinblick auf wissenschaftliche Ansprüche und eine kritische Auswertung klassischer Quellen im Bereich der islamisch-theologischen Studien in seiner Gesamtheit ist die Arbeit als ausgesprochen relevante und aktuelle Ressource zu betrachten.
Prof. Dr. Bekim Agai, Direktor der AIWG
Dr. Philipp Farid Suleiman
„Die Grundlagen der Attributenlehre Ibn Taymiyyas – Mit einer Analyse ausgewählter Attribute Gottes“, angefertigt am Departmen Islamisch-Religiöse Studien, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Philipp Farid Suleiman ist Projektkoordinator der AIWG Longterm-Forschungsgruppe „Die Normativität des Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels“ und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er hat vor zehn Jahren in Jordanien Arabisch gelernt und begonnen, arabische Literatur zu lesen. Dabei hat er seinen Fokus auf philosophisch-theologische Themen gelegt und ist schon bald bei den Werken Ibn Taymiyyas hängengeblieben. Auch mit Hilfe dieser Vorarbeit der Primärliteratur konnte sich Farid Suleiman dann im Verlaufe seiner Doktorarbeit umfassend mit Ibn Taymiyyas Attributenlehre befassen. Sein ursprünglicher Hintergrund im IT-Bereich war ein weiterer Vorteil in Bezug auf die praktischen Herausforderungen der Datenverarbeitung und dem Management des Informationsbestands.
Abstract
Die Frage, wie Gottes Wesen und Seine Eigenschaften zu verstehen und sprachlich zu fassen sind, wurde bereits im Frühislam diskutiert. In den Folgejahrhunderten entwickelte sie sich zu einem zentralen Streitpunkt. Zahlreiche muslimische Denkströmungen unterschiedlichster Ausrichtung formulierten dezidierte Positionen hierzu, die in ihrer Abgrenzung zu anderen oftmals identitätsstiftende Funktionen erfüllten. So lässt sich verstehen, wieso der überaus produktive Gelehrte Ibn Taymiyya (gest. 1328; edierter Korpus umfasst über 30.000 S.) in seinen Werken keine andere Frage so ausführlich diskutierte wie diese. Die Dissertation, veröffentlicht unter dem Titel „Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes“, skizziert zunächst Entstehung und Verlauf der kontrovers geführten Debatte bis in die Zeit Ibn Taymiyyas. Im Hauptteil werden die ontologischen, sprachlichen, hermeneutischen und epistemologischen Grundlagen, auf denen Ibn Taymiyyas Attributenlehre baut, beschrieben, analysiert und geistesgeschichtlich kontextualisiert. Schließlich wird anhand von Ibn Taymiyyas Ausführungen zu fünf ausgewählten Eigenschaften Gottes untersucht, ob sie im Einklang mit den eben erwähnten Grundlagen stehen. Indem die Dissertation die in vielen Einzelteilen unsystematisch ausgebreiteten Ansichten Ibn Taymiyyas zu einer Gesamtschau verarbeitet, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Rezeption eines Denkers, der in der Forschung als einer der einflussreichsten Gelehrten im modernen sunnitischen Islam gilt.
Die veröffentlichte Dissertaion von Dr. Philipp Farid Suleiman finden Sie hier.
Laudatio
In der Moderne wird Ibn Taymiyya besonders vor dem Hintergrund einer rigiden Haltung in Bezug auf manche Glaubensfragen rezipiert; seine bemerkenswerten Überlegungen zu der Zeitlichkeit des Korans, seiner Textlichkeit oder seiner Bedeutung für muslimische Reformströmungen oder seine Rechtsmethodik wird dabei oft übersehen.
Ein wichtiges theologisches Desiderat ist auch ein klassisches Thema des Kalam, die Attribute Gottes. In diesen Diskussionen offenbaren sich Gottes und Menschenbilder der jeweiligen Zeit und damit hat diese vermeintlich nur spekulative Betrachtung durchaus einen lebensweltlichen Bezug. In seiner Arbeit beginnt Herr Suleiman zunächst mit einer bemerkenswerten Darstellung des Diskurses über die Lehre der Attribute Gottes seit dessen Entstehung in der frühislamischen Zeit. Bereits damit liefert er einen sehr wertvollen Beitrag zur Forschung innerhalb der islamisch-theologischen Lehre. Die Arbeit stellt dann durch die weitere Untersuchung der Attributenlehre Ibn Taymiyyas einen enormen wissenschaftlichen Mehrwert dar: Während Ibn Taymiyya ohne Zweifel als einer der einflussreichsten Gelehrten gilt, sind seine Werke größtenteils unsystematisch und inhaltlich sprunghaft. Hiermit teilt er das Schicksal einiger heutiger Gelehrter, die vor lauter Lehrtätigkeit immer wieder sehr spannende Ideen vertreten, aber über das Schrifttum (heute Aufsätze) hinweg oder die Schülerschaft eingesammelt werden müssen. Dies ist für die islamische Geschichte kein Sonderfall, insofern ist der Ansatz von Herrn Suleiman hier über seine Arbeit hinaus interessant.
Durch seinen beruflichen Hintergrund als IT-ler konnte Herr Suleiman sich ausgewählte digitale Tools zu Hilfe nehmen, um nicht den Überblick über die enorme Datenmenge zu verlieren. Herr Suleiman liefert mit seiner Dissertation einen bedeutenden Schritt zu einer systematischen Gesamtschau Ibn Taymiyyas Denken und unterstützt damit eine Bandbreite zukünftiger Rechercheprojekte im Feld der islamischen Theologie. Herr Suleimans Dissertation ist gekennzeichnet durch eine überaus gründliche Recherche, die in eine argumentativ stringente und methodisch klare Abhandlung mündet.
Prof. Dr. Bekim Agai, Direktor der AIWG
Tolou Khademalsharieh
„Textkritik am Koran – Theoretische Grundlagen und Praxisfragen“, angefertigt am Seminar für Islamische Theologie, Universität Paderborn
Tolou Khademalsharieh wurde im Iran geboren und hat dort zunächst ein Studium in Wirtschaftsingenieurwesen absolviert. In Berlin schloss sie anschließend ein Studium der Arabistik ab. Als sie während des Studiums den historisch-kritischen Zugang zum Koran kennenlernte, entdeckte sie, dass in diesem Bereich eine Lücke in der Grundlagenforschung klaffte, nach einer grundlegenden und programmatischen Würdigung einer koranischen Textkritik.
Sie promovierte im Rahmen des von der Stiftung Mercator geförderten Graduiertenkollegs Islamische Theologie in Münster und Paderborn. Zudem war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt „Corpus Coranicum“ in Berlin sowie im DFG Projekt „Koranische Zugänge zu Jesus Christus in der Perspektive Komparativer Theologie“ an der Universität Paderborn.
Heute ist sie in der Erwachsenenbildung tätig und bietet Weiterbildungen für Religionslehrer_innen zur Korandidaktik an. Gleichzeitig arbeitet sie an einem pädagogischen und didaktischen Konzept für einen zeitgemäßen Zugang zum Koran in der Lehre.
Dr. Bekim Agai mit der Preisträgerin Tolou Khademalsharieh
Foto: Julis Matuschik
Abstract
Am Anfang des Forschungsvorhabens stand die Fragestellung: Wie kann eine Textkritik am Koran in der Praxis erfolgen? Die Beantwortung dieser Frage warf theoretische Grundsatzfragen auf: Die erste Frage lautete, ob es einen koranischen „Urtext“ gegeben habe und inwiefern eine Pluralität im Urtext des Korans denkbar sei?
Eine detaillierte Auseinandersetzung mit frühen Kanonisierungsereignissen zeigt deutlich, wie sehr die Textgenese des Korans sich dadurch auszeichnet, dass ein ursprünglich mündlicher Text immer stärker als ein schriftlicher Text wahrgenommen wurde.
Das gesprochene Wort war das Medium; Schrift war sekundär
Die Schrift galt in den vormodernen islamisch geprägten Gesellschaften als Erinnerungshilfe, was anhaltende Spuren primärer Oralität aus der vorislamischen Zeit verdeutlichen. Dies wurde aber in der Korantradierung durch die Kanonisierungsprozesse stufenweise beseitigt, was zur Transformation einer mündlich-dynamischen Verkündigung in einen schriftlich-statischen Kodex führte.
Ein textkritischer Zugang kann und darf nicht darauf abzielen, einen absolut korrekten Text zu finden, um diesen anstelle der Medina-Ausgabe quasi „in die Tasche zu packen“. Zumal Textkritik per Definition bloß einen Annäherungsversuch darstellt. Stattdessen stellt diese Arbeit den ergebnisoffenen textkritischen Zugang zum Text in den Fokus, mit der Absicht, der normativen Auslegung des Korans, die heute z.B. vom Fundamentalismus besonders gefordert wird, einen Riegel vorzuschieben.
Damit ist in der Dissertation eine systematische Grundlage für das Verstehen des Korans angelegt, womit sich neue – eigentlich alte – hermeneutische Zugänge zum Koran eröffnen, die seine Rezipienten zu innerlichen Veränderungen verleiten könnten. Darin liegt nicht nur ein wissenschaftliches Interesse, sondern ein essentielles theologisches sowie religionspädagogisches Anliegen.
Somit liefert die Dissertation eine bisher fehlende Grundlagenarbeit – sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Basis – für alle Bereiche der islamisch-theologischen Studien: immer da, wo eine zeitgemäße wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Koran zur Aufgabe gemacht wird.
Laudatio
Tolou Khademalsharieh wurde im Iran geboren und hat dort zunächst ein Studium in Wirtschaftsingenieurwesen absolviert. In Berlin schloss sie anschließend ein Studium der Arabistik ab. Als sie während des Studiums den historisch-kritischen Zugang zum Koran kennenlernte, so sagt sie, entdeckte sie, dass in diesem Bereich ein Bedarf in der Grundlagenforschung bestand: nämlich nach einer grundlegenden und programmatischen Würdigung einer genuin koranischen Textkritik.
Damit war das Interesse an ihrem Thema geboren, das sie im Rahmen des von der Stiftung Mercator geförderten Graduiertenkollegs Islamische Theologie in Münster und Paderborn verfolgte. Hauptanliegen ihrer Dissertation ist es, Textkritik am Koran als einen Baustein der islamisch-theologischen Studien im deutschsprachigen universitären Raum aufzugreifen. Denn, so argumentiert sie überzeugend, die ergebnisoffene Art der philologischen Herangehensweise mit ihren historisch fundierten und rational begründbaren Kriterien sind auch für die islamischen Studien vielversprechende Voraussetzungen zur Konzipierung zeitgemäßer Koranwissenschaften im Rahmen des europäischen wissenschaftlichen Diskurses. Dafür unternimmt Frau Khademalsharieh den Versuch, mithilfe der philologischen Arbeit an Koranmanuskripten und -textstellen aufzuzeigen, wie eine solche Textkritik am Koran anzusetzen wäre. Sie geht dabei ausführlich der wichtigen Frage nach, was eigentlich unter einem sogenannten Urtext für den Korantext theoretisch zu verstehen wäre und wie man sich diesem Urtext in der wissenschaftlichen Praxis systematisch mit textkritischen Methoden annähern kann. Sie nutzt dabei islamwissenschaftliche und islamisch-theologische Ausgangsperspektiven und Methoden komplementär, und nicht konträr, sondern verbindet in außerordentlich fruchtbarem Maß zwei Wissenschaftstraditionen miteinander.
Diese Komplementarität spiegelt sich auch in der Betreuung der Arbeit wider: Eingereicht hat Frau Khademalsharieh die Arbeit bei Prof. Dr. Zishan Ghaffar, Professor für Koranexegese am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn. Ihre Zweitbetreuerin war Prof. Dr. Angelika Neuwirth von der FU Berlin, in deren großem Projekt Corpus Coranicum Frau Khademalsharieh selbst Mitarbeiterin war. Beide Betreuer_innen – so viel darf ich sagen – sprechen in ihren Gutachten von einer wegweisenden Pionierleistung, die Frau Khademalsharieh mit ihrer Arbeit vorlegte. Aus Sicht der Auswahlkommission für diesen Abschlusspreis völlig zu recht. Denn einerseits hat Frau Khademalsharieh umfassend die methodischen Grundlagen einer koranexegetischen Disziplin der Textkritik begründet. Andererseits hat sie eine Methodologie der Handschriftenkunde zum Koran vorgelegt. In ihrer Arbeit streift sie zunächst – scheinbar mühelos – althergebrachte Muster ab, die sich durch die Sakralisierung und Normativierung des Korans über dessen Erforschung gelegt haben, stellt aber auch philologisch-islamwissenschaftliche Paradigmen auf den Prüfstand. Diese Leistungen stellen einen bedeutenden Meilenstein für eine zeitgenössische Koranexegese im Kontext der Etablierung islamisch-theologischer Studien an deutschen Universitäten dar. Die Tatsache, dass eine Doktorarbeit eine methodische Grundlage für eine so zentrale Teildisziplin werden kann, verdeutlicht, welche große Bedeutung Promotionen in diesem jungen Fach im deutschsprachigen Raum einnehmen.
Aus Sicht der Auswahlkommission für den AIWG-Dissertationspreis hat Frau Khademalsharieh damit völlig verdient die Bestnote „summa cum laude“ für ihre Arbeit erhalten. Wir freuen uns sehr, ihre Arbeit mit dem diesjährigen Dissertationspreis der AIWG auszuzeichnen und gratulieren ihr herzlich.
Prof. Dr. Bekim Agai, Direktor der AIWG