„Erhoffen uns neue Perspektiven bei Fragen zur Sexualmoral“
Seit gut mehr als einem Jahr beschäftigt sich unsere Shorttermforschungruppe „Wege zu einer Ethik“ mit der Frage danach, ob es einer „islamischen Ethik“ als eigenständiger Disziplin bedarf. Wir haben mit den drei Wissenschaftler_innen Prof. Dr. Serdar Kurnaz, Prof. Dr. Mira Sievers und Prof. Dr. Rana Alsoufi unter anderem über ihre wichtigsten Forschungsfragen, das Wörterbuch, das im Projekt entsteht, und ihre Projektziele gesprochen.
Serdar Kurnaz
Serdar Kurnaz ist Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart am Berliner Institut für Islamische Theologie (BIT) der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war er Juniorprofessor an der Universität Hamburg und Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft. Zu seinen Forschungsthemen gehören neben den Hadithwisschenschaften und der klassischen sowie modernen Koranexegese, die islamische Rechtsmethodik, Islam und Recht und die Geschichte des islamischen Rechts.
1. Ihr Projekt läuft seit Mai 2020. Bitte skizzieren Sie zunächst kurz die wichtigsten Forschungsfragen Ihres Projekts.
Serdar Kurnaz: Das Projekt geht der Frage nach, ob und inwiefern eine mögliche islamische Ethik sich von einer philosophisch begründeten Ethik unterscheidet. Ferner soll in zwei großen Arbeitspakten erarbeitet werden, wie die Gelehrten mit ethisch relevanten Themen in Subdisziplinen der islamischen Wissenschaften umgegangen sind. In diesem historisch-systematischem Teil des Projekts werden diese verschiedenen Expertisen an vier Beispielen exemplarisch zusammengetragen: aus der systematischen Theologie, der Philosophie, dem Recht und der sogenannten adab-Literatur. Im zweiten Arbeitspaket, dem Transfer-Teil des Projekts, werden die vier historisch aufgearbeiteten Denksysteme am Beispiel der Sexualethik auf ihre Relevanz für die Praxis hin überprüft.
2. Wieso bedarf es einer „islamischen Ethik“ als eigenständiger Disziplin?
Mira Sievers: Bisher gibt es in der traditionellen Literatur der Islamischen Theologie verschiedene ethische Ansätze und Diskussionen. Diese haben sich aus unterschiedlichen Gründen nicht zu einer gesonderten Teildisziplin mit eigenständiger Methodik entwickelt. Das Projekt will der Frage nachgehen, ob eine „islamische Ethik“ als Forschungsfeld oder Disziplin angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen notwendig ist und wenn ja, wie sie sich ausgestalten lässt. Denn die bisher in der Tradition vorhandenen Ansätze haben eigene Grundannahmen und folgen unterschiedlichen Argumentationsstrategien, die sich nicht ohne Weiteres zusammenführen lassen.
3. Welche Transferpotentiale sind in den Themen der Sexualethik zu finden?
Rana Alsoufi: Im Projekt soll das Transferpotential der im historischen Projektteil untersuchten ethischen Ansätze für die Bearbeitung sexualethischer Fragestellungen diskutiert werden. In diesem Sinne wird die Frage nach dem tatsächlichen Erfolg dieser Übersetzungsleistung erst nach Abschluss der zweiten Projektphase bewertet werden können. Da aber Fragen der Sexualmoral sowohl im Kontext des Islams als auch der anderen abrahamitischen Religionen häufig Anlass für Diskussionen sind, erhoffen wir uns hier neue Perspektiven: Fragen nach gelingender Partnerschaft, den Voraussetzungen für eine verantwortungsvolle Sexualität und dem Umgang mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten sollen ausgehend von ganz unterschiedlichen Strängen der islamischen Tradition neu betrachtet werden.
Rana Alsoufi
Rana Alsoufi ist Juniorprofessorin für Islamische Normenlehre am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam der Goethe-Universität Frankfurt. Sie beschäftigt sich mit Recht, Rechtstheorien als auch mit Strafrecht im Islam. Zudem gehören Normative Ethik und die Geschichte des Normensystems des Islams zu ihren Forschungsschwerpunkten.
4. Im Rahmen des Projekts soll auch ein Online-Wörterbuch entstehen. Nach welchen Kriterien wählen Sie die Begriffe aus, die Sie in das Wörterbuch aufnehmen?
Mira Sievers: Das Online-Wörterbuch hat zum Ziel, die Grundbegriffe der ethischen Diskurse in der muslimischen Tradition disziplinübergreifend zusammenzutragen. Damit soll eine Grundlage für weitere Forschungsarbeiten geschaffen werden. Die jeweils spezifische Bedeutung eines Begriffs in den einzelnen Disziplinen wird dabei gesondert hervorgehoben. Dadurch wird es möglich sein, Zusammenhänge zwischen den Verwendungsweisen von Begriffen in unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen zu erkennen, aber auch, Bedeutungsunterschiede eines konkreten Begriffs nachzuvollziehen. Das Wörterbuch ist nach den arabischen Begriffen organisiert. Es gibt daneben aber auch eine Liste der deutschen Übersetzungsbegriffe, durch die Interessierte ebenfalls die entsprechenden Einträge erreichen können. Das Wörterbuch ist aktuell im Entstehen (work-in-progress).
5. Gibt es bereits erste Begriffe, die nachgeschlagen werden können?
Rana Alsoufi: Eine Auswahl an Begriffen kann bereits nachgeschlagen werden, ihre Beschreibung ist aber noch nicht abgeschlossen – so sind in einigen Fällen erst die Bedeutungen in einer einzelnen Disziplin oder sogar nur bei einem einzelnen Gelehrten beschrieben.
6. Für wen ist das Wörterbuch interessant?
Rana Alsoufi: Das Wörterbuch richtet sich an Forschende im Bereich der Ethik – durchaus auch an Nicht-Theolog_innen – und an Studierende der Islamischen Theologie, verwandter Studienfächer wie Islam- und Religionswissenschaften und anderer Theologien. Gerade für die letztere Gruppe der Studierenden soll das Wörterbuch auch eine praktische Hilfe beim Verstehen der Bedeutungszusammenhänge in arabischen Quellen darstellen.
Mira Sievers
Mira Sievers ist seit 2020 Juniorprofessorin für Islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik am Berliner Institut für Islamische Theologie (BIT) der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht zur Ethik in der islamischen Tradition, zu islamischen Glaubensgrundlagen und systematischer Theologie. Zusätzlich gehören Islamische Theologie und Gender und historisch-kritische Koranforschung zu ihren Forschungsschwerpunkten.
7. Was haben Sie sich noch bis zum Projektende vorgenommen?
Serdar Kurnaz: Die nächsten großen Schritte bestehen im Abschluss der historisch-systematischen Phase des Projekts durch eine Tagung. Pandemiebedingt musste diese leider zweimal verschoben werden und findet nun in der Mitte statt zu Beginn des Projekts statt. Außerdem sollen im Sommer vier fertige Artikel mit den ersten Projektergebnissen vorliegen, die dann die Grundlage unserer weiteren Arbeit bilden. Ab Herbst dieses Jahres wird dann die Perspektive gewechselt: Ausgehend von der Auswahl ganz konkreter ethischer Fragestellungen sollen die erarbeiteten Ansätze der Tradition neu betrachtet werden. Dabei soll auch geklärt werden, inwiefern diese hilfreiche Lösungsansätze für die Beantwortung gegenwärtiger Fragen aufzeigen können. Das Projekt soll planmäßig im Sommer 2022 mit einer Abschlusstagung und der Publikation einer Monographie enden.
8. Welches Fazit ziehen Sie nach den ersten Projektmonaten?
Mira Sievers: Ein sehr positives! Trotz erheblicher pandemiebedingter Schwierigkeiten bei der Einstellung der Mitarbeiter_innen läuft das Projekt mittlerweile wie geplant. Alle zwei Wochen treffen wir uns virtuell mit dem gesamten Projektteam. Dabei koordinieren wir die Arbeit am Online-Handbuch und besprechen Fragen, die uns an den unterschiedlichen Orten unserer Forschung bewegen.
Mehr zum Projekt hier.
Die Fragen stellten Stefanie Golla und Caroline Sosna