In seinem Buch „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ macht sich Thilo Sarrazin auf die Suche nach dem „Wesen des Islam“. Darin findet sich eine Reihe von grundlegenden sachlichen Fehlern, die im Folgenden von  Wissenschaftler_innen und Expert_innen unterschiedlicher Fachgebiete eingeordnet werden.

Europa

„In Europa gab es bis vor wenigen Jahrzehnten kaum nennenswerte Gruppen nichteuropäischen Ursprungs. Hier lebten europäische Weiße, und soweit sie eine Religion hatten, war diese christlich.“ (S.14)

Dazu erklärt der Soziologe Prof. Michael Daxner: Die Wendung „in Europa“ sagt hier im Grunde wenig aus: Europa hat sich historisch unter ganz unterschiedlichen Bedingungen zu einem Kontinent bzw. zu einem Begriff konstituiert. Das Römische Reich inklusive seiner mediterranen Ausdehnung hatte eine längerfristige Grenze nach Mitteleuropa und war stattdessen nach Asien und Teilen von Nordafrika ausgedehnt (also i.S. von Sarrazin nicht Europa). Seitdem konstituiert sich die Bevölkerung des heutigen Europa durch lang andauernde und umfangreiche Immigration von nicht-„europäischen“ Ethnien. Allein die Einwanderung auf die britischen Inseln, die slawische Besiedlung oder der Ethnomix auf dem Balkan sind Belege für eine frühe dauernde Durchmischung, die nicht-„europäischer“ Ursprünge sind.

Die Etymologie des Namens Sarrazin – vom arabischen Scharqiyun („Morgenländer“) – weist im Übrigen daraufhin, dass er selbst arabische Wurzeln und keine „weiße“ Vergangenheit hat.

Europa ist ein politischer und kultureller Kontinent, und das Christentum hat dabei keineswegs seine Struktur dominant und flächendeckend geprägt. In dieser Aussage fehlen zudem die Millionen jüdischen Personen, die bis 1945 den Kontinent mitprägten. Sarrazins Begriff vom Deutschtum beruht hier auf einer völkisch anmutenden Verflachung. Ich empfehle die Lektüre dessen, was „deutsch“ bedeutet – dass es keinen „Teut“ als Stammvater gab und welche Folgen die Volkskonstruktion gegenüber z.B. den romanischen Sprachgemeinschaften hatte –, in Kluge: Etymologisches Wörterbuch, 17. Auflage, S 129. (https://www.degruyter.com/view/product/42888?rskey=McuFMZ&result=3) Das ist nicht unwichtig: für Europa findet sich dort kein „Stichwort“.

Prof. Dr. Michael Daxner ist Wissenschaftsberater und emeritierter Professor für Soziologie und jüdische Studien an der Universität Oldenburg.

Verhältnis von Staat und Kirche

„Dagegen wurde im christlichen Abendland die Emanzipation der Kultur von der Religion durch die im Christentum angelegte Trennung von Staat und Kirche ermöglicht. Schon Jesus hatte gesagt: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ (S. 133)

Dazu erklärt der katholische Theologe Prof. Klaus von Stosch von der Universität Paderborn: „Auch das Christentum war und ist in einigen Ländern Staatsreligion. Und in vielen anderen Ländern sind die Kirchen eng mit dem Staat verflochten – man denke nur an die nationalstaatlichen orthodoxen Kirchen im Osten Europas, aber auch an die protestantische Tradition der Staatskirchen im Norden Europas. Selbst in Deutschland haben wir ja bis heute eine Kooperation von Staat und Kirchen und nicht etwa die von Sarrazin behauptete Trennung.

Das von ihm gebrachte Bibelzitat ist zwar in der Tat die Grundlage für die Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers, aber auch das hat selbst lutherische Kirchen über Jahrhunderte nicht davon abgehalten, Religion und Politik eng zu verzahnen. Schon zu Luthers Lebzeiten war es nur die Protektion von Fürsten, die die Verbreitung des Protestantismus ermöglichte.

So wie es in der Bibel Stellen gibt, die man nutzen kann, um eine Trennung zwischen Staat und Kirche zu ermöglichen, gibt es entsprechende Stellen im Koran. Ob man diese Stellen entsprechend auslegt und auf diese Weise eine säkulare Gesellschaftsordnung möglich macht, hat nichts mit der Religion zu tun, sondern mit der Einstellung zur Religion – also mit der Frage, ob man sie fundamentalistisch auslegt oder nicht. Und Gott sei dank haben wir gerade in Deutschland eine neu entstehende islamische Theologie, die jeder Gestalt des Fundamentalismus mit guten Argumenten entgegentritt.“

Prof. Dr. Klaus von Stosch ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Paderborn.

Die Bibel

„Bei der Bibel war es zu keiner Zeit nötig, die Gefährlichkeit des Textes dadurch zu kontrollieren, dass man die Massen der Gläubigen von seiner Interpretation ausschloss.“ (S. 56)

Dazu der katholische Theologe Prof. Tobias Specker: „Die Aussage ist auf den ersten Blick richtig. Auf den zweiten Blick erweist sie sich als suggestiv: Denn sie verbindet die Frage der Zugänglichkeit des religiösen Textes für die breite Schicht von Gläubigen mit der „Gefährlichkeit“ des Textes. Hierzu ist zu sagen: Erstens hing die Tatsache, inwiefern der biblische Text für den einzelnen Gläubigen zugänglich war, nicht von der Entscheidung religiöser Autoritäten über die „Gefährlichkeit“ des biblischen Textes ab, sondern von anderen Bedingungen: Im westlichen Christentum z.B. von der Frage der Übersetzung in Volkssprachen, von der Verbreitung der Bildung in lateinischer Sprache und von der Bedeutung der Heiligen Schrift für den Glauben (im Verhältnis zur sogenannten Tradition, also zu Entscheidungen der Konzilien, von wichtigen Theologen der ersten Jahrhunderte oder päpstlichen Lehraussagen). Zweitens kann die Aussage suggerieren, dass ein gefährlicher Koran einer ungefährlichen Bibel gegenüberstehe. Bekannterweise ist diese einfache Gegenüberstellung aufgrund des bloßen Textes nicht zu halten. Natürlich kann und konnte mit dem Bezug auf biblische Texte auch Gewalt, zum Beispiel gegen Andersgläubige, legitimiert werden. Zu denken ist an das berühmte „nötigt sie einzutreten“, an dualistisch verstandene Passagen der Apokalypse oder Erzählungen über die Landnahme Josuas. Präziser wäre also neben der Frage der Textauslegung im Blick auf den Text als solchen zu diskutieren, ob es spezifisch innerbiblische Widerstände zu den problematischen Passagen gibt und wie sich diese zu entsprechenden koranischen Perspektiven verhalten.“

Prof. Dr. Tobias Specker ist Juniorprofessor für Katholische Theologie im Angesicht des Islam an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen.

Sarrazins Koran-Verständnis

„Meine Antwort suche ich im Text des Korans, so wie ich ihn als verständiger Laie ohne Kenntnisse des Arabischen in deutscher Sprache verstehe. […] Da ich zur Religion des Islam nicht von Behauptungen und Einschätzungen aus zweiter Hand leben möchte, habe ich den Koran […] von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen.“ (S. 21ff.)

Dazu erläutert Prof. Bekim Agai, Direktor der AIWG: Der Koran wurde in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren einer arabischsprachigen, spätantiken Hörerschaft offenbart. Den Text als Laie lesen und verstehen zu wollen ist ehrenwert – dadurch bleibt er allerdings, wie Sarrazin selbst zugibt, größtenteils unverständlich. Denn der Koran ist ein vieldeutiger Text, in dem Gott mal strafend, mal vergebend erscheint, in dem absolute Kenntnis über den Glauben oder Unglauben nur Ihm zugeschrieben wird, in dem der Mensch mal frei im Handeln ist, mal von Gott gelenkt. Ein Text, in dem Muhammad eine Figur mit vielen Charakterzügen ist, in dem Kategorien von Glaube und Unglaube fluide sind, die Schriftbesitzer mal Partner im Glauben, mal Konkurrenten, in dem Krieg eine Option ist wie der Frieden, das Recht auf Vergeltung eine Option wie auch das Gebot der Vergebung. Dass man sich dem Koran ohne Berücksichtigung von Erläuterungen und Kommentaren, ohne Wissen über seinen Offenbarungskontext, nicht nähern kann, lernen unsere Studierenden der islamischen Theologie in Deutschland bereits im ersten Semester. Das ist auch Grundkonsens islamischer Gelehrsamkeit. So entblößt, seinem historischen und sozialen Kontext, seiner 1400-jährigen Interpretationsgeschichte, seiner vielen inneren Spannungen und Mehrdeutigkeiten entrissen, wird der Text zu wenig mehr als dem Spiegel seines Interpreten.

Prof. Dr. Bekim Agai ist Direktor der AIWG und Professor für Kultur und Gesellschaft des Islam in Geschichte und Gegenwart an der Goethe-Universität Frankfurt.

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Mehrdeutigkeit des Korans

„[Es] wird umso bedeutsamer, dass die Aussagen des Korans, wenn sie einmal in eine inhaltliche Ordnung gebracht wurden, es an Klarheit und Deutlichkeit nicht mangeln lassen und wenig Ambivalenz übrig bleibt.“ (S. 63)

Dazu erklärt der Theologe Prof. Ömer Özsoy: „Wenn inhaltlich zusammenhängende Koranpassagen, die im Korantext auf verschiedene Suren zerstreut vorkommen, in Ordnung gebracht werden, werden ihre Ambivalenz und Varianz nur noch ersichtlicher. Hätte Sarrazin eine solch ermüdende Arbeit gewagt, hätten ihn die Ergebnisse enttäuscht: Er hätte nämlich einen inhaltlich geordneten Koran gewonnen, in dem Intoleranz und Toleranz, Gewalttätigkeit und Gewaltabneigung, Hass und Liebe, Unterdrückung und Gleichberechtigung der Frauen etc. gleichermaßen vorkommen. Dieser Umstand verpflichtet den ernsthaft interessierten Leser, diese Widersprüchlichkeit aufzulösen, um die koranische Botschaft zu verstehen. Die Wissenschaft schlägt möglichst genaue chronologische Einordnung und kontextuelle Lektüre der betroffenen Passagen vor, keinen selektiven Umgang. Der Koran Sarrazins bzw. der muslimischen Fundamentalisten, dessen Gehalt „im Sinne von Intoleranz, Gewalttätigkeit, Hass auf die Ungläubigen, Rückständigkeit und Unterdrückung der Frauen“ eindeutig ist, ist genauso illusionär wie der Koran vieler muslimischen Apologeten und dessen Gehalt im Sinne von „Menschenliebe, Barmherzigkeit, Toleranz, Gewaltabneigung und Gleichberechtigung der Geschlechter“.“

Prof. Dr. Ömer Özsoy ist Professor für Koranexegese an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Sexualität und Koran

„Die Religion des Islam beruht auf dem Bild eines sexuell zutiefst unsicheren Mannes, der sich nur durch Herrschaft und Kontrolle der sexuellen Treue der Frau versichern kann.“ (S. 177)

Dr. Ali Ghandour von der Universität Münster erläutert dazu: „‘Die vollkommenste Gotteserkenntnis vollzieht sich beim Geschlechtsakt‘, schrieb ein muslimischer Gelehrter im 13. Jahrhundert in Andalusien. Bis zum 19. Jahrhundert existierte in der muslimischen Welt eine lebendige erotische Kultur, die sich in der Dichtung, in Geschichten oder Ratgebern niederschlug. Diese offene Haltung früherer Muslime zur Erotik kommt nicht von ungefähr: Im Koran wird offen über Sex gesprochen. Erotik und sexuelles Genießen werden hier als etwas Positives dargestellt – und zwar bei beiden Geschlechtern. Vom Propheten Muhammad gibt es zudem zahlreiche Überlieferungen, denen zufolge er seinen Anhängern Ratschläge gab, wie sie selbst und ihre Frauen die sexuelle Beziehung genießen können. Er verwies etwa auf die Bedeutung des Vorspiels und gebot seinen Gefährten, den Geschlechtsakt erst zu beenden, wenn auch die Frau zum Höhepunkt gekommen ist. Man kann sich allerdings kaum vorstellen, so etwas von heutigen Gelehrten zu hören. Viele Muslime haben sich von einer offenen Sexualität und auch Homoerotik entfernt – dies hat allerdings andere Gründe als den Koran.“

Dr. Ali Ghandour ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster.

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Übersetzung des Korans

Dazu erklärt Dr. Jan Felix Engelhardt von der AIWG: „Der Koran besteht aus 114 Suren (nicht wie angegeben 113). Und aus insgesamt über 6.000 Versen, von denen sich nur ca. 200 mit Normen, Geboten und Ritualen befassen. Die Übersetzung von Rudi Paret, die Sarrazin benutzt, bemüht sich um eine möglichst wortgetreue Wiedergabe des Arabischen. Doch der Koran ist auch ein ästhetischer Text: Er ist in Reimform gehalten, arbeitet mit Wiederholungen und machtvollen Sprachbildern. Diesen ästhetischen Charakter des Korans, den der Orientalist Navid Kermani als eigentliches Wunder des Korans bezeichnet, berücksichtigte Paret in seiner Übersetzung nicht. Wer diesen auch im Deutschen nachvollziehen möchte, dem seien die Übersetzungen von Friedrich Rückert oder Milad Karimi empfohlen:

Dr. Jan Felix Engelhardt ist Geschäftsführer an der AIWG.

Islamische Baukultur

„Eine selbstständige islamische Baukultur hat sich nie entwickelt. Der Inbegriff der Moschee-Architektur ist immer noch die Hagia Sophia, im 6. Jahrhundert n. Chr. unter Kaiser Justinian als christliche Kirche erbaut.“ (S. 140)

Dazu erläutert der Islamwissenschaftler Prof. Lorenz Korn: „Ja, die Hagia Sophia entstand vor dem Auftreten des Propheten Muhammad, und sie ist als Hauptmoschee des Osmanischen Reiches ab 1453 von großer Bedeutung für die Moscheearchitektur der Osmanen gewesen, die diesen Bautyp weiterentwickelt haben. In den achthundert Jahren vor diesem Datum hatte sich allerdings bereits eine reiche islamische Architektur entwickelt; man denke etwa an den Felsendom in Jerusalem, an die großen Moscheen von Damaskus, Kairouan, Córdoba und Isfahan. Die islamische Architektur hat ziemlich originelle Schöpfungen hervorgebracht, etwa im Bereich der Gewölbekonstruktionen. (Damit haben islamische Bauten in al-Andalus wiederum auf die romanische Architektur in Spanien und Südwestfrankreich eingewirkt.) Wer polemisieren will, der könnte ebenso gut behaupten, dass sich eine eigenständige christliche Baukultur nie entwickelt habe – Inbegriff der Kirchenarchitektur ist noch immer die römische Palastbasilika, wie sie unter Konstantin d. Gr. im 4. Jahrhundert gängig war.“

Prof. Dr. Lorenz Korn ist Professor für Islamische Kunstgeschichte und Archäologie an der Universität Bamberg.

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Islamische Kunst

„Die bildende Kunst litt im Islam von Anfang an unter dem in den Koran hineininterpretierten Bildnisverbot.“ (S. 139)

Dazu stellt Prof. Stefan Weber vom Museum für islamische Kunst in Berlin klar: „Dies ist zu differenzieren und „von Anfang an“ ist schlicht falsch. Vor allem in der frühislamischen Zeit waren figürliche Darstellungen in Wandmalereien und Skulpturen weit verbreitet. Kalifale Schlösser des 8. Jahrhunderts wie Mschatta, Qusair Amra, Khirbat al-Minya, Qasr al-Khayr al-Gharbi sind bzw. waren voller Skulpturen und Malereien.

Dabei zeigte sich früh die Trennung zwischen profaner und sakraler Kunst: das kalifale Badehaus Qusair Amra (Jordanien, ~730) birgt die wohl prächtigste Innenausmalung im Stil von Fresken aus der Zeit Spätantike / früher Islam in Nahen Osten, gleiches gilt für das Medium Stein für die prächtig skulpturierte Palastfassade und Ausstattung von Mschatta (Jordanien, ~740, Fassade in Berlin), wie auch für die Palastanlage Khirbet al-Mafjar in Stuck (~730/740, Palästinensische Autonomiegebiete, Skulpturen und Malereien im Rockefeller Museum Jerusalem). Hier finden sich zahlreiche Abbildungen und Plastiken von Menschen und Tieren. Die weitläufigen Mosaike der Damaszener Umaiyadenmoschee sind zwar auch die größten und prächtigsten erhaltenen ihrer Zeit, doch zeigen sie „nur“ imaginäre Landschaften. Figürliche Darstellungen aus Moscheen sind nicht bekannt.

Die Bildkultur schwankt je nach Ort und Dynastie in den Folgejahrhunderten, verliert sich aber nicht. Dies gilt auch für die Ostkirchen und findet seine Parallele im byzantinischen Bilderstreit des 8./9. Jahrhunderts. In einigen Regionen wie im Maghreb (westlichen Nordafrika) bleiben Abbildungen von Menschen bis auf Abbildungen in Büchern die Ausnahme.

Dennoch, Objekte islamischer Kunst zeigen über die Jahrhunderte hinweg Abbildungen, diese gehörten zur üblichen künstlerischen Praxis – wenn auch nach anderen ästhetischen Kriterien als in Europa. Wie in der europäischen Kunst des Mittelalters auch, ist die künstlerische Arbeit an Objekte gebunden, die in einem Gebrauchskontext stehen. Dies belegen Museumssammlungen weltweit mit ihren Tausenden von Objekten, die auffallend häufig Darstellungen von Menschen wie Tieren auf Tellern, Bechern und Kannen zeigen – ob aus dem Irak, Ägypten oder Iran. In der Buchkunst finden sich seit dem 10. Jahrhundert in wissenschaftlichen und literarischen Texten unzählige Darstellungen von Menschen und Tieren. Interieurs in Kairo schmückten im 10. /11. Jahrhundert zahlreiche Schnitzereien mit Jagd- und Bankettszenen, Skulpturen waren im 11./12. im Iran und Zentralasien sehr beliebt, islamische Tiergefäße oder Großplastiken aus Metall wurden sogar nach Europa exportiert. Ab dem 13. Jahrhundert lässt sich geradezu von einer Explosion von Malereien mit menschlichen Darstellungen in literarischen Werken sprechen. Die Oberschicht im Iran oder islamischen Indien erfreute sich um 1600 an aberhunderten z.T. lebensgroßen Malereien und im islamischen Indien bildete sich eine hochentwickelte Porträtkunst aus. Die bilderfreudigen Epochen überwiegen allerdings nicht überall. Im öffentlichen Raum war man z.B. in der osmanischen Welt im 16. Jahrhundert zurückhaltend, doch müssen wir davon ausgehen, dass in der Volkskultur Bilder (z.B. das Schattentheater Karagöz) weit verbreitet waren. Ölgemälde im europäischen Stil finden sich schon im Iran des 17. Jahrhunderts, setzten sich aber erst im 19. Jahrhundert durch. In der Zeit wird im Iran alles mit Menschen und Tieren bemalt oder gestaltet, was man beleben kann: Dosen, Spiegel, Wände, Decken, Textilien, Teppiche, Tassen, Teller etc.

 

„Die reiche griechische und römische Tradition menschlicher Bildnisse ging so zugrunde. Dies erstreckte sich auch auf alle plastischen Werke der bildenden Kunst.“ (S. 139)

Dazu Prof. Weber: „Die absolute Setzung und die vereinfachten kausalen Zusammenhänge sind falsch. So lebte die antike und spätantike Buchmalerei, insbesondere illustrierte wissenschaftliche Abhandlungen, in der islamischen Welt weiter. Klassische Texte wie die de materia medica des Dioskurides wurden nicht nur ins Arabische übersetzt, sondern auch die illustrierenden Bildtraditionen der griechischen Handschriften wurde übernommen und weiterentwickelt. Auf diese Weise wurde eine reiche Tradition von Buchmalerei bewahrt und – was den Vorwurf noch verdrehter erscheinen lässt – an das europäische Mittelalter überliefert. Ohne die Manuskriptproduktion in Bagdad, Kairo oder Toledo wären zahlreiche bebilderte Werke antiker Autoren heute verloren.

Anders gelagert ist der Fall in Bezug auf die griechische und römische Tradition menschlicher Bildnisse als Skulptur. Diese war in der Spätantike überall deutlich zurückgegangen. Das christliche Mittelalter kannte eher Skulptur als Relief und nicht die vollrunde Großplastik, die erst nach der Jahrtausendwende einen Neuanfang erlebte. In islamisch geprägten Gesellschaften nahm man davon in der frühen Neuzeit meist Abstand, da schattenwerfende Objekte aus religiösen Gründen abgelehnt wurden. Plastisch-figürlich Kunst ist eher die Ausnahme – mit den Besonderheiten im 8. Jahrhundert und später immer wieder vor allem im 12./13. Jahrhundert. Reliefdarstellungen finden sich in allen Epochen häufiger in den Palästen der Eliten und Gefäße in Tierform waren sogar eine Inspiration für europäische Gussgefäße (Aquamanile). Figürliche Großplastiken kamen aber erst wieder unter europäischem Einfluss im 19./20. Jahrhundert auf.“

 

„Diese kunst- und bilderfeindliche islamische Tradition ist nicht tot. das Wüten des IS gegen Bildnisse und antike Kulturgüter […] wurzeln vielmehr in einer ehrwürdigen islamischen Tradition.“ (S. 140)

Prof. Weber erklärt dazu: „Wäre die Zerstörung von Bildnissen und antiken Kulturgüter ein Wesensmerkmal islamischer Kulturen, hätte der IS nichts mehr zerstören können. Die Pyramiden stehen seit 1400 Jahren neben dem islamischen Kairo, die besterhaltenden römischen Theater befinden sich in der Türkei und Syrien, die großen Bazare in Aleppo, Damaskus oder Jerusalem verlaufen heute noch entlang hellenistischer Marktstraßen und entlang der überregionalen Handelsstraßen im Iran stehen unbeschadet monumentale Darstellung von Königen aus der vorislamischen Zeit, die den islamische Herrschern im (qadscharischen) 19. Jahrhundert als Vorbild dienten, sich ebenfalls monumental in Stein meißeln zu lassen. Das Wissen der Antike wurde ausgiebig gesammelt, reflektiert, erweitert und gerettet – die Grundlage unserer aller Wissenschaften. Das Wüten des IS ist eine für die meisten Muslime schockierende Neuerscheinung des 21. Jahrhunderts, angefangen mit den propagandistischen Zerstörungen hunderter Buddhastatuen durch die Taliban. Diese hatten unübersehbar an einer Haupthandelsroute gestanden, doch die Gesellschaften und Herrscher in Afghanistan und die vielen muslimischen Händler entlang der Seidenstraße fühlte sich offensichtlich über Jahrhunderte davon nicht gestört. Deren Zerstörung 2001 war nicht typisch islamisch.“

„Kunstfeindlichkeit und Bilderstürmerei zählen in gewissem Sinne zum islamischen Glaubenskern.“ (S. 140)

Dazu Prof. Weber: „Dies ist nicht nur komplett falsch sondern grob verunglimpfend. Kunstfreudigkeit ist ein Kennzeichen islamisch geprägter Kulturen. Monumentale bis ins Detail exquisit gestaltete Grabbauten wie der Taj Mahal, lebensfrohe und prächtige Palastanlagen wie die Alhambra, Kuppelbauten wie der Felsendom oder die fast schwebenden Kuppeln in Istanbul, unfassbar kleingliedrige Miniaturmalereien, feinste Glas und Keramikproduktion bestimmen einen der größten und prächtigsten Kunsträume auf unserer globalen Landkarte. Dies hat auch Europa enorm bereichert: ob Musikinstrumente, feinst gewebte und geknüpfte Textilien oder z.B. Blau-Weiss Keramik, die europäische Kunstwelt wäre ohne den Ausstauch mit der islamischen Welt deutlich ärmer. Bilderstürmer gab es immer wieder, aber das kennen wir mit dem reformatorischen Bildersturm im 16. Jahrhundert auch aus der europäischen Geschichte.

Die fanatischen Glaubenswüteriche sind, wie oben dargestellt, nicht typisch islamisch, sondern versuchen mit extremistischen Ideologien und radikalem Schwarz-Weiß-Denken alle anderen islamischen Glaubens- und Lebensformen ins Abseits zu drängen. Sie nutzen radikale Glaubenspositionen um wirkungsmächtig zu erscheinen und Gesellschaften zu polarisieren.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Auslassungen von Sarrazin grob vereinfachend und oft falsch sind. Sie steigern sich in durchaus vorhandene Extreme hinein und entwerfen so ein schematisches Islambild, das dem des IS ähnlich ist. Dies ist nicht nur durch die Verneinung der Lebenswelten und Realitäten sowie der offensichtlichen und wohlbekannten großartigen künstlerischen Leistungen ganzer Gesellschaftsgruppen grob fahrlässig, es spielt sogar den Extremisten in die Hände, die ja ein verengtes Islambild á la Sarrazin für sich proklamieren. Es bringt all die Muslime in Bedrängnis und in die Defensive, die offene Kulturbilder verfolgen und verschärft die gesellschaftliche Polarisierung.“

Prof. Dr. Stefan Weber ist Direktor des Museums für islamische Kunst in Berlin.

Islamischer Religionsunterricht

„Der Staat muss […] ein großes Interesse daran haben, dass islamischer Religionsunterricht, soweit er stattfindet, einen liberalen, mit dem säkularen Staat kompatiblen Islam verbreitet, nicht einen konservativen Kopftuch-Islam, der die wörtliche Interpretation des Korans, die Geltung der Scharia und ein rückständiges Frauenbild propagiert.“ (S. 407)

Die Religionspädagogin Prof. Fahimah Ulfat von der Universität Tübingen erläutert dazu: „Der Staat hat in der Tat bei jedem konfessionellen Religionsunterricht – ob katholisch, evangelisch, orthodox oder muslimisch – ein Interesse daran, dass sich die gelehrten Inhalte innerhalb der freiheitlich-demokratischen Ordnung bewegen. Deshalb müssen die Lehrpläne, die durch Fachpersonen erstellt werden, durch die jeweiligen Kultusministerien der Länder bestätigt werden. Dies gilt auch für die Lehrpläne des islamischen Religionsunterrichts. Die betroffenen Religionsgemeinschaften haben dabei ein Mitsprache- bzw. Vetorecht. Ziel des islamischen Religionsunterrichtes bspw. in Grundschulen in Nordrhein-Westfalen ist es, „die Schülerinnen und Schüler auf dem Weg ihrer persönlichen Entwicklung in Richtung Mündigkeit als Gläubige und als aktiv gestaltende Mitglieder in Gemeinwesen und Gesellschaft zu unterstützen […], auf der Grundlage islamischer Quellen (u. a. Koran, Sunna) zu eigenverantwortlichem Leben und Handeln zu motivieren [und] innerislamische und gesellschaftliche Pluralität aufzugreifen und für deren Bedeutung und Wert zu sensibilisieren“. (Lehrplan für den IRU in NRW). Auch in den Bildungsplänen der anderen Bundesländer steht die Subjektorientierung im Vordergrund, die es ermöglicht, die islamische Tradition hin auf den Menschen in seiner Zeit und auf die ihm gegeben Situation zu reformulieren.
Islamischer Religionsunterricht soll also weder den einen noch den anderen Islam verbreiten, sondern jungen Muslimen ermöglichen, ihren persönlichen Weg in der Religion zu finden, in ihrer Identität gestärkt zu werden, pluralitätsfähig zu werden und somit in die Lage versetzt zu werden, sich als Muslime in einer globalisierten Welt zu beheimaten.“

Prof. Dr. Fahimah Ulfat ist Professorin für islamische Religionspädagogik an der Universität Tübingen.

Islamische Theologie an Universitäten

„Forschung und Lehre an den Universitäten kann durchaus auch islamische Theologie umfassen. Allerdings sollte diese dann nach den anerkannten Maßstäben einer kritischen Wissenschaft betrieben werden. Professoren und anderes Lehrpersonal müssen wissenschaftlichen Maßstäben genügen. Islamische Theologie sollte in der philosophischen Fakultät angesiedelt sein. Die angemessene Verzahnung mit Sprachwissenschaften, Geschichtswissenschaften und Philosophie muss sichergestellt sein. Über die Abschlüsse, die an Lehrstühlen für islamische Theologie möglich sind, müssen die Universitäten befinden.“ (S. 405/6)

Dazu erklärt Dr. Jan Felix Engelhardt von der AIWG: „2010 empfahl der Deutsche Wissenschaftsrat, das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium, die Einrichtung der islamisch-theologischen Studien an deutschen Universitäten. Mittlerweile studieren an zehn staatlichen Hochschulen über 2.000 junge Menschen islamische Theologie oder Religionspädagogik. Ihre Abschlüsse unterliegen, so wie die aller anderen Studienfächer, den jeweiligen universitären Bedingungen. Die verschiedenen Institute sind dabei überwiegend an philosophischen, kulturwissenschaftlichen oder erziehungswissenschaftlichen Fakultäten eingerichtet – eine eigene islamisch-theologische Fakultät, wie es sie für die christlichen Theologien gibt, existiert in Deutschland nicht. Die Zusammenarbeit mit anderen, nicht-konfessionellen Fächern ist dabei gang und gäbe: An allen Standorten gibt es gemeinsame Lehrveranstaltungen und Studienkooperationen. Fast 50 Prozent der Beiträge auf wissenschaftlichen Konferenzen der islamisch-theologischen Studien stammen von Wissenschaftler_innen aus anderen Fächern.“

Dr. Jan Felix Engelhardt ist Geschäftsführer an der AIWG.

Zum Weiterlesen:

Wissen über den Islam

„Der Durchschnittseuropäer, der weder als Muslim aufgewachsen ist noch Islamwissenschaften studiert hat, kann sich über das »Wesen« des Islam und die Frage, ob dieser Religion bestimmte Gefahren innewohnen, die Muslime auch gefährlich werden lassen, naturgemäß kein Bild machen.“ (S. 19)

Dazu Dr. Jan Felix Engelhardt von der AIWG: „Niemand wird mit Wissen über den Islam geboren – auch Muslime nicht. Ein Bild machen kann sich aber jeder, und zwar mit diesen empfehlenswerten Einführungen zum Islam:

Oder man trifft Menschen muslimischen Glaubens einfach persönlich, um mit ihnen über ihr Islamverständnis zu sprechen. Zum Beispiel in Berlin bei „Meet a Muslim“: https://www.facebook.com/meetamuslimberlin/ oder dem Tag der offenen Moschee am 3. Oktober.“

Dr. Jan Felix Engelhardt ist Geschäftsführer an der AIWG.

Empehlenswerte Literatur zum Islam in Deutschland:

 

Deutsche Koranübersetzungen:

 

Rezensionen und Beiträge zu „Feindliche Übernahme“: