„Falsafa wurde von Mumbai bis Cordoba, von Bukhara bis nach Dakar im Senegal betrieben“

 

Ihr Projekt „Falsafa in die Schule“ möchte islamisch geprägte Philosophie in die Klassenzimmer bringen. Bevor wir ausführlicher aufs Projekt eingehen, lassen Sie uns zunächst kurz die Begriffe „Falsafa“ und „islamisch geprägte Philosophie“ erklären. Was bedeutet „Falsafa“? Was ist genau unter „islamisch geprägter“ Philosophie zu verstehen? Gibt es einen Unterschied zwischen islamischer Philosophie und islamisch geprägter Philosophie? Und warum ist es wichtig, zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden?

Laura Beusmann: Falsafa ist genau wie das deutsche Wort Philosophie ursprünglich ein Lehnwort an das Griechische philosophía. Nachdem die Araber die Region zwischen dem heutigen Afghanistan und Spanien erobert hatten und Arabisch im 8. Jahrhundert n. Chr. die Handels- und Wissenschaftssprache zwischen Asien, Westeuropa und Nordafrika wurde, übersetzten Gelehrte die antiken griechischen Texte ins Arabische. Das klingt simpler als es war. Denn mit jeder Übersetzung gehen Interpretationen und Wortneuschöpfungen einher. Hinzu kommt, dass die antiken Wissenschaften in arabischer Sprache weiterentwickelt und wiederum übersetzt wurden: Ins Hebräische, Persische, Sanskrit, Türkische, Lateinische, Englische und so weiter. Es ist also relativ einfach, den Beginn von falsafa zu identifizieren, aber nicht ihr Ende. Thomas von Aquin hat Ibn Sīnā gelesen, Leibniz Ibn Ṭufayl und so fort.

Riem Spielhaus: Um es noch komplizierter zu machen, ließe sich auch von arabischer Falsafa sprechen, denn nicht nur Muslim_innen wirkten an dieser übersetzten Wissenschaft und Denkbewegung mit, sondern christliche, jüdische und anderen Glaubensrichtungen angehörende oder von diesen beeinflusste Personen.  Auch der sprachliche Hintergrund der Mitwirkenden war vielfältig: Darunter waren Persisch, Aramäisch oder Syrisch Sprechende. Falsafa wurde von Mumbai bis Cordoba, von Buchara in Zentralasien bis nach Dakar in Westafrika betrieben. Egal welches Adjektiv wir vor Falsafa setzen, es scheint unseren Blick darauf einzuschränken und der Geschichte dieser Denkbewegung nicht gerecht zu werden.

Müfit Daknili: Schon lange streiten wir darüber, welcher Name für jene Philosophie verwendet werden soll, deren Anfänge auf die islamische Welt des achten Jahrhunderts zurückgehen. Richtungsweisend sind bis heute die Ergebnisse einer Umfrage, die der ägyptische Islamwissenschaftler Georges Anawati in den 1950er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts unter führenden Wissenschafter_innen des Feldes durchgeführt hat. Dort werden jene Namen zur Diskussion gestellt, die auch heute noch zur Auswahl stehen: »arabische Philosophie«, »islamische Philosophie«, »Philosophie der islamischen Welt«. Alle diese Bezeichnungen sind problematisch. Der Name „arabische Philosophie“ schließt Texte aus, die nicht auf Arabisch verfasst sind. „Islamische Philosophie“ schließt das Denken von Nichtmuslim_innen aus, das aus guten Gründen zu dieser Philosophie gezählt wird. Und die Rede von „Philosophie in der islamischen Welt“ setzt einen geografischen Raum voraus, dessen Politik und Kultur „islamisch“ bestimmt sind. Dies ist spätestens mit dem Einsetzen kolonialer Ansprüche auf diesen Raum nicht mehr gegeben; unmittelbar durch das Durchsetzen der Ansprüche und mittelbar dadurch, dass die Reaktion hierauf zu grundlegenden Veränderungen des Verständnisses davon geführt hat, was unter „islamisch“ zu verstehen ist. Zudem schließt dieser Name Autor_innen aus, die ihren Lebensmittelpunkt nicht oder nur teilweise in der „islamischen Welt“ haben, sich aber dennoch als Vertreter_innen dieser Philosophie sehen. Neben der semantischen Unzulänglichkeit teilen die Namen aber auch eine perspektivische. Sie bezeichnen allesamt Analysebegriffe. Dagegen verwenden die Quellen meist »falsafa« oder »ḥikma« (Ar. für Gr. „sophía“). Im Rahmen der Projektarbeit haben wir uns daher entschlossen, unseren Gegenstand im Tandem anzusprechen: mit dem Quellbegriff »Falsafa« und dem Analysebegriff »islamisch geprägte Philosophie«. Damit möchten wir zum einen auf die grundsätzliche Problematik aufmerksam machen, die das Auffinden eines geeigneten Analysebegriffes schwierig macht, und zum anderen schon im Titel, »Falsafa in die Schule«, deutlich machen, dass wir die Didaktisierungen der Inhalte dieser Philosophie nicht vorschnell an eine bestimmte Art von Analyse binden. Diese Vorsicht bei der Begriffswahl zahlt sich insbesondere im Hinblick auf das Denken der späteren und modernen Vertreter_innen aus.

„Es ist gar nicht Ziel des Projekts, einen kohärenten Falsafa-Begriff anzuwenden oder aufzustellen.“

 

Riem Spielhaus: In den 1960er- Jahren wurde der Begriff „Islamicate“ vorgeschlagen, um diese Form der Prägung zu beschreiben, die eben nicht die theologische Ausrichtung am Islam meint, sondern den Kontext, in dem sich auch Denkende anderer Religionszugehörigkeit bewegten und zu dem sie sich verhielten. „Islamisch geprägt“ ist daher unser Versuch, diese Komplexität im Deutschen abzubilden.

Laura Beusmann:   Es ist überdies gar nicht Ziel des Projekts, einen kohärenten Falsafa-Begriff anzuwenden oder aufzustellen, sondern mit den Fragen, die der Falsafa-Begriff aufwirft, die Kohärenz des vorherrschenden Philosophie-Verständnisses in Frage zu stellen. Seit der christlichen Eroberung der iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert (n.Chr.) bis ins 19. Jahrhundert nahmen christlich geprägte Philosophen zahlreiche Abgrenzungen, Aneignungen, Abwertungen und Ausschlüsse in der Philosophiegeschichte vor, die bis heute nachwirken. So unterteilte beispielsweise Hegel die „arabischen“ Philosophen in islamische Theologen und Aristoteles-Kommentatoren und räumte letzteren lediglich eine Überbringerfunktion von der griechischen in die lateinische Philosophie des Mittelalters ein. Anschließend schließt er sie allesamt aus seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie aus. Dieses Philosophieverständnis gilt in der Forschung längst als überholt, ist in Lehre, Bildungsmedien und Unterricht aber immer noch präsent und wirkt sich dadurch auch auf den gesellschaftlichen Diskurs, die Suchmaschinen und sozialen Medien aus.

Was sind die wichtigsten Forschungsfragen, die Sie im Rahmen Ihres Projekts angehen möchten?

Laura Beusmann: Da es sich um kein Forschungs- sondern ein Transferprojekt handelt, sind die folgenden Fragen zentral: Welche Texte sind aus fachwissenschaftlicher Perspektive besonders relevant?  Welche Texte sind aus fachdidaktischer Perspektive besonders geeignet für den Unterricht? Welche Texte liegen in deutscher Übersetzung vor? Welche curricularen Vorgaben müssten aus fachwissenschaftlicher Perspektive überarbeitet werden? In den interdisziplinären Netzwerktreffen spielen wir eine Art Ping Pong mit Fragen dieser Art, um herauszufinden, welche Textausschnitte aus zwölf Jahrhunderten islamisch geprägter Philosophiegeschichte in die extrem begrenzte Unterrichtszeit in der Schule gelangen sollen und können. Das ist eine enorme Herausforderung und eine Aufgabe, die wir nicht begonnen haben und nicht abschließen werden, sondern beschleunigen wollen, indem wir neue Synergien schaffen und Expert_innen aus Forschung, Schulpraxis und Bildungsmedienverlagen zusammenbringen.

„Die akademische Philosophie blickt immer noch fast ausschließlich auf Enten.“

 

Warum ist es wichtig, islamisch geprägte Philosophie in den Schulunterricht und die Lehramtsausbildung zu integrieren?

Riem Spielhaus: Die Frage könnte anders gewendet auch lauten – warum wird Falsafa noch nicht als integraler Bestandteil von Philosophie gelehrt, obwohl sie doch wichtiges Bindeglied zwischen den alten Griechen und deren Wiederentdeckung, nicht zuletzt eine wichtige Grundlage für die Aufklärung und heutige Philosophie bilden? Auch wenn man den eurozentristischen Blick auf Philosophie beibehalten wollte, wäre doch die Übersetzung ins Arabische und ins Lateinische essentiell zum Verständnis der Geschichte der heutigen sogenannten westlichen Philosophie.

Müfit Daknili: Denken Sie an Kippfiguren, etwa solche, die Wittgenstein verwendet, um den Begriff des Aspektwechsels zu veranschaulichen. An einer Stelle gebraucht er die Darstellung eines Tierkopfs, die Sie als Hasen- oder Entenkopf wahrnehmen. Beide Wahrnehmungen sind durch einen spontanen Gestaltwechsel miteinander verbunden. Ein solcher Gestaltwechsel setzt jedoch voraus, dass Ihnen beide Gestalten geläufig sind. Auch wenn für die meisten Expert_innen nicht-westlicher Philosophien am Wert dieser Philosophien kein Zweifel besteht, blickt die akademische Philosophie immer noch fast ausschließlich auf Enten, das heißt auf die Traditionen, die ihr schon immer geläufig waren. Vom Hasen ist vielleicht der Name bekannt, seine Gestalt aber ohne Bedeutung. Sie bleibt unerkannt, was das Kippen der Figur unmöglich macht. Für die akademische Philosophie, insbesondere mit Blick auf ihre institutionelle Ausrichtung, stellt die Gleichsetzung von Philosophie mit westlicher Philosophie den unmarkierten Fall, den Naturzustand, dar. Vor diesem Hintergrund haben sich die beiden Philosophen Jay Garfield und Bryan W. Van Norden (mit Expertise in buddhistischer und chinesischer Philosophie) in einem viel beachteten Beitrag in der Philosophiekolumne in der New York Times dafür ausgesprochen, dass die philosophischen Institute sich ehrlicherweise in „Department of European and American Philosophy“ umbenennen sollten. Um diese polemisch gemeinte Forderung entspannte sich eine für das Format ungewöhnlich hitzig geführte und über tausende Beiträge währende Debatte. Weder an persönlichen Beleidigungen noch an offenem Rassismus wurde gespart. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die beiden den richtigen Nerv getroffen hatten. Ihre Forderung lässt sich leicht auch auf die Philosophie im Schulunterricht übertragen: Möchten wir weiterhin nicht-westliche Philosophien aus dem Schulunterricht ausschließen, sollten wir auch den Mut besitzen, das Fach mit dem richtigen Namen anzusprechen: „westliche Philosophie“, „Unterricht westlicher Ethik“. Die bessere Lösung wäre freilich, den Schüler_innen nicht ungefragt Welt vorzuenthalten, das heißt, Philosophie in ihrer Breite zu unterrichten und damit auch islamisch geprägte Philosophie. Das Argument, demzufolge der islamisch geprägten Philosophie wegen ihrer Vermittlerrolle zwischen Spätantike und lateinischem Mittelalter Eingang in den Schulunterricht gewährt werden sollte, ist vor diesem Hintergrund lediglich ein Argument zweiter Ordnung, das zudem nur auf einen Teil islamisch geprägter Philosophie zutrifft.

 

Kaninchen/Ente Illussion aus den Fliegenden Blättern, 23. X. 1892

Laura Beusmann: Und selbst an diesen Vorschlägen zeigt sich, wie schwierig es ist, sich von der Enten-Perspektive zu lösen. Denn die Analyse-Begriffe „westlich“ und „europäisch“ reproduzieren sie. Sie suggerieren eine geografische Trennung zwischen philosophía, falsafa und Philosophie, die so nie bestanden hat: Das antike Griechenland erstreckte sich bis nach Südosteuropa, Westasien und Nordafrika, das islamische Mittelalter bis nach Westeuropa, Zentralasien, und Nordafrika. In der Forschung ist längt die Rede von verflochtenen Philosophiegeschichten. Doch es fehlt an Begriffen, um diese in Worte zu fassen. Ich würde daher dringend von einer Umbenennung der Unterrichtsfächer abraten, um die längst widerlegten Forschungsparadigmata und problematischen Klassifizierungen der Philosophiegeschichte in den Klassenzimmern nicht zu verstärken. Stattdessen kann islamisch geprägte Philosophie anhand philosophischer Fragestellungen im Unterricht behandelt werden und so zu einer Versachlichung des Diskurses über Philosophie beitragen. Einen solchen Ansatz wählt beispielsweise das Projekt „Philovernetzt“.

Mira Sievers: Spricht man über unterschiedliche Schulfächer, so lässt sich beispielsweise feststellen, dass im islamischen Religionsunterricht die „islamisch geprägte Philosophie“ noch nicht überall ein fester Bestandteil des Curriculums ist. Doch sie ist unverzichtbar – schon alleine, weil sie ganz verschiedene Formen muslimischen Nachdenkens über religiöse Grundfragen nachhaltig geprägt hat. So verdanken sich beispielsweise wesentliche Teile der islamischen Tugendethik der Auseinandersetzung mit den übersetzten griechischen Wissenschaften. Wenn Gelehrte wie al-Ġazālī ausführen, wie die menschliche Seele erzogen wird und wie die tierischen Kräfte kontrolliert werden müssen, dann beziehen sie sich auf das Denken der islamisch geprägten Philosophie und die dieser zugrundeliegenden antiken Tugendethik. Aber auch mit Blick auf die Gegenwart sind die Fragen der islamisch geprägten Philosophie aktuell: Wie philosophische Deutungen der Welt mit religiösen Wahrheitsansprüchen zu vereinbaren sind, ist weiterhin relevant.

Laura Beusmann: Ich denke, Falsafa gehört in den Schulunterricht, weil sie Teil der Philosophiegeschichte, auch der europäischen, und philosophisch wertvoll ist. Das Gedankenexperiment des „fliegenden Menschen“ von Ibn Sīnā (lat. Avicenna) ist schlichtweg zu genial und einflussreich, um es philosophisch interessierten Schüler_innen vorzuenthalten. In diesem Gedankenexperiment fragte sich Ibn Sīnā, ob der Mensch allein durch sein Denken auf seine Existenz schließen könne, wenn er ohne Sinneseindrücke in der freien Luft schweben würde. Ganz ähnlich also aber zeitlich vor Descartes „Ich denke also bin ich“. Und dies ist nur ein Beispiel. Wenn Vermittler_innen die Philosophiegeschichte ohne die islamisch geprägte erzählen, begrenzen sie den Erkenntnishorizont der Philosophie auf eine Weise, die dem philosophischen Selbstverständnis widerspricht. Dabei würde eine Auseinandersetzung mit der islamisch geprägten Philosophie auch helfen, um die islamisch geprägte Gegenwart besser zu verstehen – von Jerusalem bis Jena und Jakarta.

„Wichtig ist uns aufzuzeigen, dass zwischen al-Ġazālī im 12. Jahrhundert und der Moderne ab dem 19. Jahrhundert keineswegs ein Abbruch stattgefunden hat.“

 

Auf welche Philosoph_innen werden Sie im Projekt eingehen?

Laura Beusmann: Im Netzwerk diskutieren wir sehr viele Philosoph_innen, einige von ihnen wurden schon für den Unterricht aufbereitet und andere werden derzeit in anderen Projekten aufbereitet, z.B. zu Ibn Sīnā, al-Ġazālī und Miskawayh. Diese Materialien möchten wir mit dem Projekt durch Fortbildungsangebote für Lehrkräfte und Schulbuchverlage bekannter machen.

Darüber hinaus entwickeln wir eigene Materialien, in denen wir Texte aufbereiten wollen, die noch nicht so bekannt sind, beispielsweise von al-Kindī, al-Fārābī, Ibn Ṭufayl und Ibn Ḫaldūn.

Sie sehen also, wir sind noch nicht in der Gegenwart angekommen, und umso mehr wir uns ihr nähern, umso kontroverser wird die Auswahl – auch hinsichtlich des Projekttitels und Ihrer Eingangsfrage. Es bleibt also spannend!

Mira Sievers: Mit Blick auf die Lehramtsausbildung versuchen wir im Projekt eine Grundlage zu erarbeiten, mit der Dozierende an Universitäten Lehrveranstaltungen zur islamischen Philosophie anbieten können – auf eine Art und Weise, die insbesondere angehende Lehrer_innen möglichst gut fachwissenschaftlich vorbereitet. Hier profitieren wir von unserer engen Kooperation mit Braunschweig bei der Entwicklung von Lehrmaterial. Inhaltlich setzen wir bei der griechisch-arabischen Übersetzungsbewegung an, sprechen über al-Kindī und die Anfänge der Philosophie im islamischen Kontext und behandeln dabei natürlich auch zentrale Figuren wie al-Fārābī, Ibn Sīnā und Ibn Rušd. Wichtig ist uns aufzuzeigen, dass zwischen al-Ġazālī im 12. Jahrhundert und der Moderne ab dem 19. Jahrhundert keineswegs ein Abbruch stattgefunden hat, sondern dass auch in dieser Periode spannende Entwürfe der islamischen Philosophie entstanden sind. In der Moderne behandeln wir einflussreiche Denker wie Taha Abdurrahman und blicken auf übergreifende Themen und Fragestellungen, wie die Auseinandersetzung mit Gender und Feminismus.

Wieso ist die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Werken dieser Philosoph_innen für Schüler_innen wichtig?

Laura Beusmann: Die konkrete Begründung fällt für jeden Text anders aus. Eine Auseinandersetzung mit Ibn Ḫaldūn kann zum Beispiel zu einer kritischen Reflexion über die Geschichtsschreibung anregen, sei es im Philosophie- und Religionsunterricht, oder im Geschichts- und Politikunterricht. Als Geschichtsphilosoph wirft Ibn Ḫaldūn Fragen auf, die für Jugendliche genauso relevant sind wie für Lehrkräfte und Schulbuchredakteur_innen; sowohl im Umgang mit historischen Quellen, als auch sozialen Medien: Wer erzählt von diesen Ereignissen aus welcher Perspektive? Welche Perspektiven werden ausgelassen? Wie würde sich ein Perspektivwechsel auf die Wahrnehmung der gleichen Ereignisse auswirken? Fake News und Geschichtsverzerrungen gibt es ja nicht erst seit Erfindung des Internets, sondern vermutlich seit Menschen sich Geschichten erzählen. Es ist ein zutiefst philosophischer und wissenschaftlicher Anspruch, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen – auch bezüglich historischer und politischer Ereignisse. Dass das nicht so einfach ist, hat schon Ibn Ḫaldūn erkannt, der im 14. Jahrhundert über Irrtümer in der Geschichtsschreibung schrieb.

„Es fehlen schlichtweg Inhalte, die nicht auf aktuelle Konflikte und extremistische Interpretationen des Islams verweisen.“

Mit Ihrem Projekt zielen Sie darauf ab, spezifischen Lücken in den aktuellen Bildungsmedien und im Schulunterricht entgegenzuwirken. Können Sie kurz auf den aktuellen Forschungsstand eingehen und beschreiben, in welchen Schulfächern dies vorzufinden ist?

Riem Spielhaus: Islam und Muslim_innen kommen in allen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern zunehmend vor. Vor allem in den Fächern der politischen Bildung. Das ist auch kein Wunder angesichts globaler Konflikte, religiös begründeten Extremismus‘ und Terrorismus‘. Aber wir stellen fest, dass der Islam im Besonderen kaum in anderen Kontexten vorkommt. Kein Wunder also, wenn Menschen behaupten, der Islam sei eine Ideologie und keine Religion. Oder als Religion würde der Islam Gewalt fördern. Auf diese Idee kann man, auf der Grundlage dessen, was in heutigen Schulbüchern hierzulande steht, jedenfalls kommen. Es fehlen schlichtweg andere Inhalte, die nicht auf aktuelle Konflikte und extremistische Interpretationen des Islams verweisen.

Laura Beusmann: Philosoph_innen aus islamisch geprägten Kontexten werden wie Stichproben zeigen, in Schulbüchern nur sehr rudimentär behandelt. Ibn Rushd (lat. Averroes) und Ben Maimon (lat. Maimonides) finden zwar häufig in Geschichtsbüchern im Kapitel zu Wissenschaften und religiöser Toleranz im muslimisch regierten Andalusien Erwähnung. Eine philosophische Auseinandersetzung mit ihren Werken und ihrer Rezeptionsgeschichte, zum Beispiel dem lateinischen und jüdischen Averroismus, findet hingegen nicht statt, auch nicht im Philosophie- und Ethikunterricht. Stattdessen entsteht der Eindruck, Philosophie in islamischen Kontexten sei ein Randkapitel des Mittelalters.

Riem Spielhaus: Zusammengefasst also: Sie werden genannt, aber die Schüler_innen erhalten keine tiefergehenden Informationen.

Laura Beusmann: Genau. Dabei könnten Philosoph_innen aus islamisch geprägten Kontexten in weit mehr Kapiteln des Geschichts- und Politikunterrichts behandelt werden: Beispielsweise zu Menschenrechten, Kolonialismus, Kaltem Krieg und Nahem Osten. Im Ethik-, Philosophie- und Religionsunterricht, auf den wir uns in diesem Projekt fokussieren, gibt es darüber hinaus unzählige Anknüpfungspunkte zu diversen philosophischen Fragestellungen. Um den Forschungsstand zu Falsafa wirklich nachhaltig in der Schule verankern, könnte jedoch eine Überarbeitung der Curricula erforderlich sein: Gegebenenfalls müssten weitere philosophische Themen und Fragen in die Rahmenlehrpläne aufgenommen werden, die bisher nicht im Unterricht vorgesehen sind.

Wie werden die exemplarischen Unterrichtseinheiten gestaltet, um sowohl Lehrer_innen als auch Schüler_innen den Zugang zu islamisch geprägten philosophischen Ideen zu erleichtern?

Laura Beusmann: Wie alle Materialien auf der Webseite zwischentoene wird es Hintergrundinformationen und Anwendungshinweise für Lehrkräfte geben, sowie eine fachdidaktische und illustrative Aufbereitung der Texte. Die Materialien werden also ohne Mehraufwand direkt im Unterricht einsetzbar sein.

 

Wie planen Sie, die Projektergebnisse in der Lehramtsausbildung und im Schulunterricht langfristig zu verankern?

Laura Beusmann: Wir planen die Bekanntmachung und Verbreitung der Materialien durch Fortbildungen im November 2025 sowie die Verlinkung auf diversen Lehrmittelplattformen, insbesondere einschlägiger Schulbuchverlage.

Für die Verankerung in den Rahmenlehrplänen und Curricula sind jedoch Bildungspolitiker_innen verantwortlich. Hier setzen wir darauf, dass die Kultusministerkonferenz der Länder den aktuellen Forschungsstand und die erarbeiteten Materialien aufgreifen und in Lehre und Praxis etablieren.

Müfit Daknili: Im Rahmen der Lehramtsausbildung erstellen wir einen Reader, der einerseits in das Denken maßgeblicher Philosophen_innen der islamisch geprägten Philosophie einführt und die Studierenden anhand von Übersetzungen mit ihrem Werk vertraut macht. Der Reader wird im Wintersemester 2025/26 in einem Seminar auf seine didaktische Konzeption hin erprobt und entsprechend angepasst. Zum Abschluss des Projekts ist eine Publikation geplant, die durch eine Webseite begleitet werden soll, in der Zusatzmaterial für die Lehre bereitgestellt und Aktualisierungen vorgenommen werden.

„Der Gewinn dieser Perspektivwechsel ist meines Erachtens ein tieferes Verständnis für die Dinge, wie sie wirklich sind.“

Zum Schluss: Haben Sie Lieblingsphilosoph_innen? Und was können deren Werke uns heute noch lehren?

Laura Beusmann: Was ich spannend finde, sind die unterschiedlichen Denkräume, die immer wieder neu geschaffen werden, je nachdem wer die Philosoph_innen auswählt, in Szene setzt und zu Wort kommen lässt. Diese Denkräume sind variabel, wie Ausstellungsräume in einem Museum. Wenn Sie in einem Raum nur Keramikobjekte ausstellen, schafft das eine andere Atmosphäre, als wenn Sie von einer Materialvielfalt aus Stoffen, Holz und Keramik umgeben sind. Die Mauern, die diese Objekte umgeben, beeinflussen ebenfalls ihre Wirkung und Interpretation. Dasselbe gilt für die Philosophie. Hegel hatte eine bestimmte Sicht auf die arabischen Philosophen und islamischen Theologen und schloss sie aus der Philosophiegeschichte mehr oder weniger aus. Solche Scheuklappen können ihre Berechtigung haben: Zur Fokussierung. Doch sie erlauben eben nur eine sehr begrenzte Sicht auf die Wirklichkeit. Wer wirklich nach Erkenntnis strebt, sollte die eigenen Scheuklappen auch mal ablegen. Genau dies versuchen wir im Projekt. Durch das interdisziplinäre Team und Netzwerk betrachten wir Falsafa aus verschiedenen Perspektiven: Als Teil der islamischen, jüdischen und christlichen Theologie, der europäischen Philosophie oder der westlichen Welt. Der Gewinn dieser Perspektivwechsel ist meines Erachtens ein tieferes Verständnis für die Dinge, wie sie wirklich sind und Bescheidenheit gegenüber der eigenen begrenzten Weltsicht.

Müfit Daknili: Lieblingsphilosophen habe ich nicht, aber Lieblingsprobleme, und eines davon ist: Was macht den Menschen aus im Hinblick auf die Frage der Algorithmisierung von Leben und Denken? Oft blicken philosophische Denknarrative auf die Welt unter dem Diktat ihrer Objektivierung, blicken auf sie aus dem Nirgendwo (Thomas Nagel). In der Philosophiegeschichte wurde dieser Position oft widersprochen. Mich interessiert, welchen Beitrag hier die islamisch geprägte Philosophie geleistet hat und ob dieser Beitrag in seinem Entstehungskontext ruht oder ihn überstrahlt.

Mira Sievers: Mehrere Denker_innen kämen bei mir in die engere Wahl. Aber mit Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī habe ich gelernt, dass das religiöse Streben nach dem Paradies untrennbar verbunden ist mit der philosophisch-ethischen Annahme, dass der Mensch Freude und Lust um ihrer selbst willen begehrt.

Riem Spielhaus: Mir gefällt al-Maʿarrī besonders. Er formuliert Zweifel. Nicht zuletzt an Gott und dessen Existenz. Hier sehe ich, dass die implizite und manchmal explizit geäußerte Behauptung, westliche Denker hätten solche Zweifel erfunden, auf schlichter Unkenntnis beruht. Persönlich bewegt mich al-Ġazālī, der das Zusammenspiel von Herz und Verstand immer wieder betont. Eine Balance, die ich als Wissenschaftlerin in der heutigen Zeit als Spannungsfeld erlebe.

Kurz-Biografien

  • Riem Spielhaus leitet die Abteilung Wissen im Umbruch im Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut und ist Professorin für Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und Wissenskulturen an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie studierte Islamwissenschaften und Afrikawissenschaften und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin zu Islamdebatten und Selbstpositionierungen von Muslimen in Deutschland. Ihre im Ergon-Verlag erschienene Dissertation wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2010 ausgezeichnet. Sie war Postdoctoral Research Fellow am Center for European Islamic Thought der Universität Kopenhagen, Dänemark und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Riem Spielhaus ist Mitglied des Rats für Migration.

 

  • Laura Beusmann ist Projektleiterin und wissenschaftliche Koordinatorin der Projektwerkstatt „Falsafa in die Schule“ am Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut. Sie studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Politik- und Rechtswissenschaft mit Schwerpunkt auf Internationalem Recht. Nach Aufenthalten in Libanon und Iran und Sprachzertifizierungen in Arabisch absolvierte sie den Masterstudiengang „Intellectual Encounters of the Islamicate World“ an der Freien Universität Berlin mit Fokus auf politische Theorie, Naturphilosophie, Mystik und Polemik des arabischen Mittelalters. Ihr besonderes Interesse gilt den Verflechtungen zwischen Forschung, Bildung, Politik und Gesellschaft zwischen Europa und Westasien. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Direktionsassistentin entwickelte Laura Beusmann zuletzt Bildungsangebote am Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum in Berlin.

 

  • Mira Sievers ist Professorin für Islamische Theologie an der Universität Hamburg. Sie studierte Islamische Studien, Islamwissenschaften und Linguistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London, mit Sprachaufenthalten in Beirut, Kairo und Istanbul. 2018 wurde sie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main promoviert und war dort anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Von 2020 bis 2024 hatte sie die Juniorprofessur für Islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. 2023 und 2024 war sie zudem Senior Fellow an der Universität Graz, im Wintersemester 2024/2025 Visiting Scholar am Royal Institute for Inter-Faith Studies in Amman, Jordanien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Koran, Kalām und islamische Ethik, mit einem besonderen Interesse an genderbezogenen und interreligiösen Fragestellungen.

 

  • Müfit Daknili ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamische Theologie der Universität Hamburg. Er studierte in Perugia und Rom Kunst sowie an der Universität Hamburg Mathematik, Physik, Turkologie und Islamwissenschaften. Zu seinen bisherigen Stationen zählen das Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Goethe-Universität Frankfurt, wo er die Arabischlehre leitete und koordinierte, sowie der Lehrstuhl für Religion des Islam am Centrum für Religiöse Studien der Universität Münster. Neben seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter war Müfit Daknili auch als Universitätsdozent, Übersetzer und Bildungsberater tätig. Sein Forschungsinteresse gilt der islamisch geprägten Philosophie.