„Der Gewinn dieser Perspektivwechsel ist meines Erachtens ein tieferes Verständnis für die Dinge, wie sie wirklich sind.“
Zum Schluss: Haben Sie Lieblingsphilosoph_innen? Und was können deren Werke uns heute noch lehren?
Laura Beusmann: Was ich spannend finde, sind die unterschiedlichen Denkräume, die immer wieder neu geschaffen werden, je nachdem wer die Philosoph_innen auswählt, in Szene setzt und zu Wort kommen lässt. Diese Denkräume sind variabel, wie Ausstellungsräume in einem Museum. Wenn Sie in einem Raum nur Keramikobjekte ausstellen, schafft das eine andere Atmosphäre, als wenn Sie von einer Materialvielfalt aus Stoffen, Holz und Keramik umgeben sind. Die Mauern, die diese Objekte umgeben, beeinflussen ebenfalls ihre Wirkung und Interpretation. Dasselbe gilt für die Philosophie. Hegel hatte eine bestimmte Sicht auf die arabischen Philosophen und islamischen Theologen und schloss sie aus der Philosophiegeschichte mehr oder weniger aus. Solche Scheuklappen können ihre Berechtigung haben: Zur Fokussierung. Doch sie erlauben eben nur eine sehr begrenzte Sicht auf die Wirklichkeit. Wer wirklich nach Erkenntnis strebt, sollte die eigenen Scheuklappen auch mal ablegen. Genau dies versuchen wir im Projekt. Durch das interdisziplinäre Team und Netzwerk betrachten wir Falsafa aus verschiedenen Perspektiven: Als Teil der islamischen, jüdischen und christlichen Theologie, der europäischen Philosophie oder der westlichen Welt. Der Gewinn dieser Perspektivwechsel ist meines Erachtens ein tieferes Verständnis für die Dinge, wie sie wirklich sind und Bescheidenheit gegenüber der eigenen begrenzten Weltsicht.
Müfit Daknili: Lieblingsphilosophen habe ich nicht, aber Lieblingsprobleme, und eines davon ist: Was macht den Menschen aus im Hinblick auf die Frage der Algorithmisierung von Leben und Denken? Oft blicken philosophische Denknarrative auf die Welt unter dem Diktat ihrer Objektivierung, blicken auf sie aus dem Nirgendwo (Thomas Nagel). In der Philosophiegeschichte wurde dieser Position oft widersprochen. Mich interessiert, welchen Beitrag hier die islamisch geprägte Philosophie geleistet hat und ob dieser Beitrag in seinem Entstehungskontext ruht oder ihn überstrahlt.
Mira Sievers: Mehrere Denker_innen kämen bei mir in die engere Wahl. Aber mit Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī habe ich gelernt, dass das religiöse Streben nach dem Paradies untrennbar verbunden ist mit der philosophisch-ethischen Annahme, dass der Mensch Freude und Lust um ihrer selbst willen begehrt.
Riem Spielhaus: Mir gefällt al-Maʿarrī besonders. Er formuliert Zweifel. Nicht zuletzt an Gott und dessen Existenz. Hier sehe ich, dass die implizite und manchmal explizit geäußerte Behauptung, westliche Denker hätten solche Zweifel erfunden, auf schlichter Unkenntnis beruht. Persönlich bewegt mich al-Ġazālī, der das Zusammenspiel von Herz und Verstand immer wieder betont. Eine Balance, die ich als Wissenschaftlerin in der heutigen Zeit als Spannungsfeld erlebe.