„In welchem Verhältnis stehen die Lernorte Schule und Moschee zueinander?“

AIWG-Interview mit Annett Abdel-Rahman und Naciye Kamcili-Yildiz

 

Bevor wir genauer auf Ihr Projekt eingehen, könnten Sie kurz nachzeichnen, wie sich die aktuelle Situation an den beiden Lernorten Moschee und Schule gestaltet? Welche Aufgaben erfüllen bspw. beide Lernorte schon jetzt?

Annett Abdel-Rahman: Gegenwärtig sind Moschee und Schule zwei zentrale, aber unterschiedlich strukturierte Lernorte für religiöse Bildung muslimischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland. Religiöse Lehr- und Lernprozesse finden an diesen beiden Orten unter sehr unterschiedlichen institutionellen, didaktischen und pädagogischen Bedingungen statt, auch die Ziele religiöser Bildung sind unterschiedlich. Daneben gibt es auch religiöse Bildung in virtuellen Räumen oder in Bildungseinrichtungen, die keine Moschee als solches sind. Diese beiden Orte haben wir aber hier vernachlässigt.

Naciye Kamcili-Yildiz: In der Moschee findet religiöse Unterweisung im Rahmen des sogenannten Moscheeunterrichts statt. Die Inhalte fokussieren sich auf die Einweisung in Rituale und Gebote einer islamisch-religiösen Lebensweise, das Rezitieren und Memorieren des Korans sowie den Austausch über Formen religiöser Praxis. In der Schule hingegen ist der islamische Religionsunterricht (IRU) als ordentliches Lehrfach – gemäß Art. 7 Abs. 3 GG – ein Teil des allgemeinen Bildungsauftrags. Dem entsprechend geht es nicht nur um Rituale religiöser Lebensweisen, sondern auch um die Reflexion der Beziehung zwischen Menschen, Religion und Gesellschaft. Islamischer Religionsunterricht hat das Ziel, religiöse Bildung im Horizont von Mündigkeit und Pluralitätsfähigkeit zu ermöglichen. Er steht somit konzeptionell für eine kritisch-reflektierende Auseinandersetzung mit Religion im Kontext einer säkularen Schulstruktur.

Annett Abdel-Rahman: Beide Lernorte sind wichtig für die religiöse Bildung: In der Moschee wird religiöse Praxis und kollektive Identität in einem gemeindlichen Rahmen sicht- und erlebbar. Aber wie wird religiöse Bildung dort reflektiert? Am Lernort Schule sollte es vorrangig um die reflexive Aneignung religiösen Wissens gehen – unter Berücksichtigung pluraler Lebenswelten sowie der Anforderungen, die sich aus gesellschaftlichen Anfragen oder Herausforderungen ergeben. Dialog- und Urteilsfähigkeit stehen am Lernort Schule im Fokus religiöser Bildung. Gegenwärtig ist jedoch nicht geklärt, ob und wieviel religiöse Praxis an den Lernort Schule gehört. Dieses Spannungsverhältnis beider Lernorte möchten wir mit diesem Projekt gezielt in den Blick nehmen.

Sie werden sich im Rahmen der AIWG-Projektwerkstatt „Religiöse Bildung an den Lernorten Schule und Moschee – eine Verhältnisbestimmung“ gemeinsam mit religionspädagogischen Akteur_innen in einem fachwissenschaftlichen Austausch mit dem islamischen Religionsunterrichtn öffentlichen Schulen und dem Unterricht in Moscheen befassen. Bitte skizzieren Sie kurz aus Ihrer Sicht die Relevanz und die Ziele des Vorhabens.

Annett Abdel-Rahman: Wie wir bereits beschrieben haben, sind aus der Perspektive der islamischen Religionspädagogik die Ziele religiöser Lehr- und Lernprozesse insbesondere am Lernort Schule noch nicht genau definiert. Aus Sicht des allgemeinen Bildungsauftrages sind sie klar definiert, aber welche Signatur soll Islamischer Religionsunterricht in der Schule konkret haben? Mit der Projektwerkstatt widmen wir uns dieser bislang unbearbeiteten Frage, in welchem Verhältnis die Lernorte Schule und Moschee von ihrem Verständnis religiöser Bildung her zueinanderstehen. Beide Orte verfolgen unterschiedliche Ziele und nutzen didaktische Konzepte, die sich an verschiedene Adressat_innengruppen richten. Das führt zu Missverständnissen und Unsicherheiten, welche Aufgabe religiöser Bildung insbesondere dem Lernort Schule zukommt, etwa bei Lehrkräften, Eltern oder Moscheegemeinden. Daher ist das Ziel unseres Vorhabens, gemeinsam mit Akteur_innen beider Lernorte herauszuarbeiten, wie religiöses Lehren und Lernen jeweils verstanden und konzipiert wird und wo sich gegebenenfalls Synergieeffekte ergeben.

Sie möchten im Rahmen der Projektwerkstatt in Form einer Konsultationsplattform einen Raum zum Austausch bieten. Was erhoffen Sie sich davon und welche Vorteile sehen Sie darin?

Naciye Kamcili-Yildiz: Die Konsultationsplattform der Projektwerkstatt ist als geschützter Diskussionsraum konzipiert, in dem Akteur_innen aus Schule, Moschee und dem Wissenschaftsbereich der islamischen Religionspädagogik auf Augenhöhe ins Gespräch kommen. In den von uns geplanten und moderierten Arbeitstreffen reflektieren sie ihre bisherige Arbeit, ihre Perspektiven, benennen Herausforderungen und entwickeln gemeinsam Positionen zu Aufgaben und Zielen religiösen Lehrens und Lernens. Dieses dialogische und konstruktive Vorgehen ermöglicht es, die unterschiedlichen fachlichen Erfahrungen der Teilnehmenden systematisch zusammenzuführen. Wir erhoffen uns davon tragfähige Impulse für eine stärkere wechselseitige Anerkennung beider Lernorte sowie für ihre jeweilige Profilierung religiöser Bildung.

Welche konkreten und potenziellen Aufgaben und Herausforderungen glauben Sie – ohne mögliche Ergebnisse der Projektwerkstatt vorweg nehmen zu wollen – treten im Rahmen islamisch-religiöser Bildung in Lehr- und Lernprozessen zum einen in öffentlichen Schulen und zum anderen in Moscheegemeinden auf?

Annett Abdel-Rahman: Religiöse Bildung am Lernort Schule muss sich auf den Bildungsauftrag von Schule ausrichten. Dazu gehört, den theologischen fachlichen Kern islamisch-religiöser Bildung in eine Wechselbewegung mit gesellschaftlichen Traditionen und Herausforderungen sowie mit den individuellen biografischen Voraussetzungen der Lernenden zu bringen. Die Lernenden sind wesentlich pluraler, als dies in einer Moscheegemeinde der Fall ist. Zusätzlich geht es darum, junge Menschen zu befähigen, Religion als mögliche positive Ressource im Rahmen unserer gemeinsamen Gesellschaft zu reflektieren und ggf. zu nutzen. Das schließt ein, sich auch über divergierende Vorstellungen der Lebensgestaltung konstruktiv austauschen zu können oder auch auf gesellschaftliche Anfragen an Muslim_innen mit Wissen und Haltung reagieren zu können. Der Lernort Moschee ist Raum für Gemeindeleben, für religiöse Praxis und für die Begegnung von Menschen, die das gleiche religiöse Bekenntnis teilen. Die Herausforderung liegt gegenwärtig darin, dass nicht genau definiert ist, wo die Grenzen (und Schwerpunkte) der beiden Orte liegen.

Im Projekt wollen Sie sich primär auf jene Bundesländer konzentrieren, die Religionsunterricht nach Artikel 7.3 anbieten. Nach welchen Kriterien werden Sie die Moscheegemeinden in Niedersachsen, NRW und Baden-Württemberg auswählen – auch mit Blick darauf, die innermuslimische Vielfalt bestmöglich abzubilden?

Naciye Kamcili-Yildiz: Wir haben Teilnehmer_innen eingeladen, die mit dem Gemeindeleben von Moscheen verschiedener Ethnien und kultureller Bindungen vertraut sind. Nicht alle Angesprochenen sind unserer Einladung gefolgt. Zusätzlich sind Moscheegemeinden unterschiedlich aufgebaut. Nicht alle Gemeinden können jemanden zur Verfügung stellen, der dann mehrere Tage an unseren Gesprächen teilnimmt. Wir haben insbesondere Teilnehmer_innen aus den großen Verbänden dabei, aber auch aus kleineren, so dass die Vielfalt berücksichtigt wurde.

Werden Sie auch Unterrichtsmaterialien genauer in den Blick zu nehmen, die an beiden Lernorten zum Einsatz kommen?

Annett Abdel-Rahman: Im Rahmen der Projektwerkstatt werden wir auch Unterrichtsmaterialien aus beiden Lernorten analysieren. Dabei interessieren uns die zugrundeliegenden didaktischen Konzepte, Lernziele und das implizite Verständnis religiöser Bildung an dem jeweiligen Lernort. Inwieweit geht es um normativ orientierte Glaubensvermittlung und reflexives, kompetenzorientiertes Lernen? Anhand ausgewählter Materialien analysieren wir zum Beispiel, wie mit religiösen Normen umgegangen wird und möchten damit Unterschiede und Gemeinsamkeiten sichtbar machen.

Was erhoffen Sie sich vom Projekt für die islamische Religionspädagogik und -didaktik einerseits und letztlich auch für die Bedürfnisse muslimischer Communitys in Deutschland anderseits?

Naciye Kamcili-Yildiz: Da wir aus der wissenschaftlichen Religionspädagogik kommen, liegt hier natürlich auch unser Fokus. Es wäre übergriffig, würden wir in unserem Projekt den Gemeinden etwas vorschreiben wollen. Die Erfahrungen bezüglich des Lernortes Schule zeigen uns, dass die Unsicherheit, welches Ziel religiöse Bildung dort hat und welche didaktischen Konzepte geeignet erscheinen, auch vor dem Hintergrund der islamisch-theologischen Passung, problematisch ist für die Konzipierung von Unterricht. Auch das Verständnis von islamischem Religionsunterricht am Lernort Schule leidet darunter. Wir wollen das ändern und hoffen, klarere Aussagen treffen zu können, welches Ziel religiöse Bildung am jeweiligen Lernort hat. Das hilft allen Beteiligten zu verstehen, was sie erwarten können und dürfen und was eben nicht.

Im System des deutschen Föderalismus verfügen die Länder über die bildungspolitische Hoheit. Die Regelungen für einen islamischen Religionsunterricht an den Schulen variiert daher von nicht existent bis hin zu regulärem islamischen Religionsunterricht in staatlicher Verantwortung. Wie sehen Sie die derzeitige Lage des Schulfachs und würden Sie sich ein einheitlicheres System wünschen oder bringt der Föderalismus auch Vorteile?

Annett Abdel-Rahman: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Wenn das einheitliche System dann die positiven Beispiele stärkt, wäre das von Vorteil, es kann aber auch sein, dass dieses System genau diejenigen stärkt, die dem IRU eher schaden. Viel wichtiger ist für den IRU, dass bundesweit verstanden wird, dass muslimische Schüler_innen ein Recht auf diesen Unterricht haben, das im Grundgesetz mit Artikel 7.3 verankert ist. Es ist also gelebte Demokratie, das Grundgesetz umzusetzen. Wir erleben das bislang leider nur teilweise. Denn es gibt Bundesländer, die nach jahrzehntelanger Diskussion den IRU immer noch im Modus des Modellversuchs sehen. Zusätzlich wissen wir von Schulleitungen, die es ablehnen, dieses Fach einzuführen. Junge Muslim_innen erleben also, dass ihr Recht nicht umgesetzt wird, das sollte so nicht sein.

Kurz-Biografien

  • Prof. Dr. Annett Abdel-Rahman ist Juniorprofessorin für Fachdidaktik des Islamischen Religionsunterrichts am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.
  • Prof. Dr. Naciye Kamcili- Yildiz ist Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik/-didaktik, am Paderborner Institut für Islamische Theologie.