Welche konkreten und potenziellen Aufgaben und Herausforderungen glauben Sie – ohne mögliche Ergebnisse der Projektwerkstatt vorweg nehmen zu wollen – treten im Rahmen islamisch-religiöser Bildung in Lehr- und Lernprozessen zum einen in öffentlichen Schulen und zum anderen in Moscheegemeinden auf?
Annett Abdel-Rahman: Religiöse Bildung am Lernort Schule muss sich auf den Bildungsauftrag von Schule ausrichten. Dazu gehört, den theologischen fachlichen Kern islamisch-religiöser Bildung in eine Wechselbewegung mit gesellschaftlichen Traditionen und Herausforderungen sowie mit den individuellen biografischen Voraussetzungen der Lernenden zu bringen. Die Lernenden sind wesentlich pluraler, als dies in einer Moscheegemeinde der Fall ist. Zusätzlich geht es darum, junge Menschen zu befähigen, Religion als mögliche positive Ressource im Rahmen unserer gemeinsamen Gesellschaft zu reflektieren und ggf. zu nutzen. Das schließt ein, sich auch über divergierende Vorstellungen der Lebensgestaltung konstruktiv austauschen zu können oder auch auf gesellschaftliche Anfragen an Muslim_innen mit Wissen und Haltung reagieren zu können. Der Lernort Moschee ist Raum für Gemeindeleben, für religiöse Praxis und für die Begegnung von Menschen, die das gleiche religiöse Bekenntnis teilen. Die Herausforderung liegt gegenwärtig darin, dass nicht genau definiert ist, wo die Grenzen (und Schwerpunkte) der beiden Orte liegen.
Im Projekt wollen Sie sich primär auf jene Bundesländer konzentrieren, die Religionsunterricht nach Artikel 7.3 anbieten. Nach welchen Kriterien werden Sie die Moscheegemeinden in Niedersachsen, NRW und Baden-Württemberg auswählen – auch mit Blick darauf, die innermuslimische Vielfalt bestmöglich abzubilden?
Naciye Kamcili-Yildiz: Wir haben Teilnehmer_innen eingeladen, die mit dem Gemeindeleben von Moscheen verschiedener Ethnien und kultureller Bindungen vertraut sind. Nicht alle Angesprochenen sind unserer Einladung gefolgt. Zusätzlich sind Moscheegemeinden unterschiedlich aufgebaut. Nicht alle Gemeinden können jemanden zur Verfügung stellen, der dann mehrere Tage an unseren Gesprächen teilnimmt. Wir haben insbesondere Teilnehmer_innen aus den großen Verbänden dabei, aber auch aus kleineren, so dass die Vielfalt berücksichtigt wurde.
Werden Sie auch Unterrichtsmaterialien genauer in den Blick zu nehmen, die an beiden Lernorten zum Einsatz kommen?
Annett Abdel-Rahman: Im Rahmen der Projektwerkstatt werden wir auch Unterrichtsmaterialien aus beiden Lernorten analysieren. Dabei interessieren uns die zugrundeliegenden didaktischen Konzepte, Lernziele und das implizite Verständnis religiöser Bildung an dem jeweiligen Lernort. Inwieweit geht es um normativ orientierte Glaubensvermittlung und reflexives, kompetenzorientiertes Lernen? Anhand ausgewählter Materialien analysieren wir zum Beispiel, wie mit religiösen Normen umgegangen wird und möchten damit Unterschiede und Gemeinsamkeiten sichtbar machen.
Was erhoffen Sie sich vom Projekt für die islamische Religionspädagogik und -didaktik einerseits und letztlich auch für die Bedürfnisse muslimischer Communitys in Deutschland anderseits?
Naciye Kamcili-Yildiz: Da wir aus der wissenschaftlichen Religionspädagogik kommen, liegt hier natürlich auch unser Fokus. Es wäre übergriffig, würden wir in unserem Projekt den Gemeinden etwas vorschreiben wollen. Die Erfahrungen bezüglich des Lernortes Schule zeigen uns, dass die Unsicherheit, welches Ziel religiöse Bildung dort hat und welche didaktischen Konzepte geeignet erscheinen, auch vor dem Hintergrund der islamisch-theologischen Passung, problematisch ist für die Konzipierung von Unterricht. Auch das Verständnis von islamischem Religionsunterricht am Lernort Schule leidet darunter. Wir wollen das ändern und hoffen, klarere Aussagen treffen zu können, welches Ziel religiöse Bildung am jeweiligen Lernort hat. Das hilft allen Beteiligten zu verstehen, was sie erwarten können und dürfen und was eben nicht.
Im System des deutschen Föderalismus verfügen die Länder über die bildungspolitische Hoheit. Die Regelungen für einen islamischen Religionsunterricht an den Schulen variiert daher von nicht existent bis hin zu regulärem islamischen Religionsunterricht in staatlicher Verantwortung. Wie sehen Sie die derzeitige Lage des Schulfachs und würden Sie sich ein einheitlicheres System wünschen oder bringt der Föderalismus auch Vorteile?
Annett Abdel-Rahman: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Wenn das einheitliche System dann die positiven Beispiele stärkt, wäre das von Vorteil, es kann aber auch sein, dass dieses System genau diejenigen stärkt, die dem IRU eher schaden. Viel wichtiger ist für den IRU, dass bundesweit verstanden wird, dass muslimische Schüler_innen ein Recht auf diesen Unterricht haben, das im Grundgesetz mit Artikel 7.3 verankert ist. Es ist also gelebte Demokratie, das Grundgesetz umzusetzen. Wir erleben das bislang leider nur teilweise. Denn es gibt Bundesländer, die nach jahrzehntelanger Diskussion den IRU immer noch im Modus des Modellversuchs sehen. Zusätzlich wissen wir von Schulleitungen, die es ablehnen, dieses Fach einzuführen. Junge Muslim_innen erleben also, dass ihr Recht nicht umgesetzt wird, das sollte so nicht sein.