Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: Studien, Debatten und politische Reaktionen
Seit 2010 bieten fünf Universitäten und zwei Hochschulen in Deutschland, darunter Tübingen, Münster und Frankfurt am Main, Studiengänge für den Islamischen Religionsunterricht (IRU) an. Derzeit unterrichten laut Mediendienst Integration über 750 IRU-Lehrkräfte etwa 69.000 Schüler_innen in mehr als sieben Bundesländern. Trotz der Relevanz dieses jungen Unterrichtsfachs gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu den Lehrkräften und dem Fach selbst. Eine solche Studie, die am 22. März 2024 im „British Journal of Religious Education“ unter dem Titel „Prospective Islamic Theologians and Islamic Religious Teachers in Germany: Between Fundamentalism and Reform Orientation“ veröffentlicht wurde, hat bundesweit für Aufsehen gesorgt. Diese Studie hat eine intensive Debatte über die Einstellungsmuster angehender islamischer Theolog_innen und Religionslehrer_innen in Deutschland ausgelöst. Durchgeführt wurde sie im Rahmen des Projekts „Religiosität, Werte und die Wahrnehmung antimuslimischer Diskriminierung unter Studierenden der Islamischen Theologie und – Religionslehre“ (IRU-IT-2022) unter der Leitung von Prof. Dr. Mouhanad Khorchide am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster. Dieser Faktencheck bietet eine kurze Übersicht über diese und weitere Studien sowie über die jüngsten medialen Diskussionen und politischen Standpunkte zum Islamischen Religionsunterricht in Deutschland.
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Studie zu Einstellungen von ITS-Studierenden
Abdulkerim Şenel und Sarah Demmrich, die Autoren der Studie „Prospective Islamic Theologians and Islamic Religious Teachers in Germany: Between Fundamentalism and Reform Orientation“, führten eine quantitative Untersuchung der Einstellungen angehender islamischer Theolog_innen und Religionslehrer_innen in Deutschland durch. Mit Fokus auf die Perspektiven der Studierenden beider Fächer zielte das Projekt IRU-IT-2022 darauf ab, Erkenntnisse über die Studienmotivation, Werteorientierung und die religiösen Einstellungen der Teilnehmenden, wie etwa zu Religiosität, Fundamentalismus und Islamismus, zu gewinnen. Dabei wurde analysiert, wie reformorientiert diese zukünftigen Religionslehrer_innen sind. Um die Reformorientierung zu messen knüpfen die Autor_innen an eine Begriffsdefinition an, die ein nicht-wörtliches Koranverständnis, gleichranginge Beziehungen zu Nicht-Muslim_innen und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gewaltpotenzial bestimmter islamischer Auslegungen damit meint. Die von ihnen durchgeführte Online-Umfrage unter 252 Studierenden zeigt, dass Reformorientierung über die Motivation, einen europäisch geprägten Islam zu vermitteln zum Ausdruck kommt und mit hohen Zustimmungswerten zu bestimmten Prinzipien, wie Geschlechtergleichheit einhergeht. Die Verfasser_innen des Artikels halten fest: Die Ergebnisse belegen, dass Reformorientierung durch den Wunsch der angehenden Lehrer_innen, einen europäischen Islam zu lehren, positiv beeinflusst wird. Negativ wirken sich laut Studienverfasser dagegen die Nähe zur türkisch-islamischen Organisationen aus: ”As expected, reform orientation showed positive correlations to orientations towards the values of gender equality and democracy, but negative associations with the representation of DİTİB and IGMG, social segregation, stereotypes, fundamentalism, and Islamism”.
Die Studie entstand im Vorfeld der Evaluation des Islamischen Religionsunterrichts in NRW. Das Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster wurde vom Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen mit der Durchführung beauftragt. Damit wird vom Forscherteam eine weitere Untersuchung zum Thema durchgeführt.
Medienecho
Lokale und überregionale Medien berichteten überwiegend über die negativen Befunde der Studie: Welt.de machte zum Beispiel mit der polarisierenden Schlagzeile auf die Studie aufmerksam: „Jeder zweite angehende Islam-Lehrer lehnt Israels Existenz ab“. Tagesspiegel.de wiederum versuchte in seinem Artikel „Studie zu angehenden Islam-Lehrern: Studenten lehnen Israel ab, stimmen aber demokratischen Werten zu“, die ebenfalls über den Blog des Autors Jan-Martin Wiarda zu lesen ist, die Studie differenzierter vorzustellen.
Reaktionen der Deutschen Gesellschaft für Islamisch-Theologische Studien (DEGITS)
Die Deutsche Gesellschaft für Islamisch-Theologische Studien (DEGITS) kritisiert methodische Schwächen der IRU-IT-2022-Studie, insbesondere vereinfachte und suggestive Fragen, die komplexe theologische Konzepte unzureichend darstellten, sowie die mangelnde Repräsentativität und Belastbarkeit, da zum größten Teil Studierende der Universität Münster befragt worden seien, die Ergebnisse aber auf die Studierenden des Faches insgesamt übertragen würden. Des Weiteren gibt es große Bedenken aufgrund einer reduktionistischen Weise der Abfrage. Die Schwarz-Weiß-Formulierungen der Fragen und Vorannahmen stellten den Islam und den Westen als dichotome Gegensätze dar, in denen sich die Teilnehmenden haben positionieren müssen. Aufgrund der begrenzten Aussagekraft mit nur zwei Fragen zum Antisemitismus und der mangelnden Repräsentativität, wird auch der Vorwurf eines weit verbreiteten Antisemitismus auf Grund der Studie als kritisch betrachtet. Laut DEGITS können die Ergebnisse keine Basis standortübergreifender belastbarer Kritik am Fach und seinen Studierenden deutschlandweit darstellen. Zum Schluss wird die Studie aus forschungsethischer Perspektive in Frage gestellt, u.a. da die ursprüngliche Anfrage an die Studierenden und der tatsächlichen Forschungsfrage voneinander abwichen.
Reaktionen von Institutionen aus dem schulischen Kontext
Die Stiftung Sunnitischer Schulrat ist die Trägerin des Islamischen Religionsunterrichts sunnitischer Prägung in Baden-Württemberg und wurde zum Zwecke der Organisation des IRU als ordentliches Lehrfach an den öffentlichen Schulen errichtet. Sie weist in einer Stellungnahme darauf hin, dass keine verlässlichen Rückschlüsse auf die in Baden-Württemberg ausgebildeten Lehrkräfte gezogen werden könnten, da keine Belege dafür vorliegen würden, dass Studierende aus dieser Region an der Studie teilgenommen haben. Sie verweist darin auf die veröffentlichte Kritik der DEGITS.
In einer gemeinsamen Stellungnahme des Elternnetzwerks NRW und des Verbands Muslimischer Lehrkräfte (VML), die am 30.04.2024 veröffentlicht wurde, wird die positive Strahlkraft des IRU hervorgehoben: Er leiste einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenleben und schaffe Raum für Akzeptanz , Austausch und Integration. Die Herausgeber_innen kritisieren die zu dem Zeitpunkt durchgeführte Befragungsweise von angehenden Lehrenden und Schüler_innen: Diese erzeuge ihrer Ansicht nach durch teilweise tendenziöse und suggestive Fragen und Antwortmöglichkeiten ein gefährliches Framing. Sie bitten zusätzlich um Klärung der Frage bezüglich der fehlenden Information an die Eltern und deren Zustimmung. Sie fordern letztendlich einen sofortigen Stopp des Evaluationsauftrags und eine Überarbeitung des Forschungsdesigns. Daraufhin gab es erste Gespräche zwischen dem Landesministerium NRW, den Verantwortlichen der Studie und dem VML, die laut ihrer Pressemitteilung vom 07.05.2024 nicht zu einer Entkräftung der begründeten Vorbehalte an der Studie führten. Darin betonen sie ebenfalls die methodischen Schwächen der zum Zeitpunkt laufenden Befragung und verweisen auf die Stellungnahme der DEGITS zur IRU-IT-2022-Studie.
Erläuterungen durch die Studienleitung der IRU-IT 2022
In einem Interview mit zeit.de äußerte sich Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster und Leiter der Studie, zu den Forschungsergebnissen. Khorchide betont darin, dass Radikalisierung und religiöser Fundamentalismus eher auf die Sozialisation in Moscheegemeinden und die Dominanz islamistischer Inhalte in sozialen Medien zurückzuführen seien als auf die islamisch-theologische Ausbildung. Er erläutert, dass sich die Einstellungen der Studierenden im Laufe des Studiums positiv verändern würde und die Studie als Standortbestimmung diene, um die Relevanz einer historisch-kritischen Lesart des Korans zu unterstreichen.
Die Autorin der IRU-IT-2022-Studie, Sarah Demmrich, hat sich in dem Artikel auf Tagesspiegel.de über die öffentliche Berichterstattung und die Kritik der DEGITS verwundert gezeigt. Sie betonte: „Unser Ziel war nicht, die islamischen Religionsstudierenden in die Pfanne zu hauen, sondern ihre Reformorientierung zu messen.“ In der Umfrage hätten sich sowohl problematische als auch positive Einstellungen gezeigt, „doch berichtet wurden bislang fast nur die besorgniserregenden“.
Politische Diskussion um die Zukunft des Islamischen Religionsunterrichts
Die Münsteraner IRU-Studie führte zu politischen Reaktionen, vor allem in Nordrhein-Westfalen. Die FDP-Landtagsfraktion NRW fordert, basierend auf den Studienergebnissen, ein Ende des Islamischen Religionsunterrichts und plädiert für die Einführung verpflichtenden Ethikunterrichts für alle Schüler_innen, die keinen konfessionsgebundenen Religionsunterricht besuchen. Katholischer, evangelischer und jüdischer Religionsunterricht soll hingegen weiterhin fortgeführt werden.
In einer Stellungnahme auf rp-online.de verteidigt auf der anderen Seite NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) den Islamischen Religionsunterricht. Sie betont, dass der Unterricht von in Deutschland ausgebildeten Lehrkräften eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben ermögliche und eine Haltung des Respekts und der Toleranz gegenüber anderen Religionen vermittle. Ziel der NRW-Landesregierung sei es, dieses Angebot schrittweise weiter auszubauen.
In Reaktion auf das Positionspapier der FDP hat die DEGITS ebenfalls eine Stellungnahme veröffentlicht, die auch von Wissenschaftler_innen aus der katholischen und evangelischen Theologie, darunter u.a. aus der Arbeitsgemeinschaft Katholische Religionspädagogik/Katechetik unterzeichnet wurden. Die Stellungnahme können Sie hier nachlesen.
Im Zuge der anhaltenden Debatten stand das Thema der Evaluation zum islamischen Religionsunterricht in NRW in einer öffentlichen Beratung im Ausschuss für Schule und Bildung (Tagesordnungspunkt 9, siehe Mediathek des NRW Landtags; Diskussion ab 01:09:45) zur Diskussion. Dort stellte Prof. Dr. Mouhanad Khorchide gemeinsam mit dem Prorektor der Uni Münster Prof. Dr. Michael Quante am 29. Mai 2024 die Ergebnisse der IRU-IT-2022-Studie vor und beantwortete Fragen dazu und zur Evaluation. Aus diesem Protokoll geht hervor, dass im Mittelpunkt des Auftrags, welcher seit Dezember 2023 am Zentrum für Islamische Theologie in Münster durchgeführt wird, folgende Leitfragen stehen: Welchen Beitrag leistet der islamische Religionsunterricht im curricularen Rahmen? Welche didaktischen Konzepte sind erfolgreich und wie trägt er zur Stärkung der Pluralitätsfähigkeit innerhalb der Schulkultur bei?
In umliegenden Bundesländern wird das Thema nicht oder anders diskutiert. Beispielsweise bietet Baden Württemberg an etwa 140 Schulen islamischen Religionsunterricht an und möchte das Angebot ausbauen.
In Hessen geht es wiederum um die Zukunft des staatlichen Angebots der Unterweisung in die islamische Religion, wogegen die dort als Religionsgemeinschaft anerkannte Glaubensgemeinschaft DITIB geklagt hat. Sie hält diesen Schulversuch für ein verfassungswidriges Parallelangebot zu den zwei Angeboten des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts durch die DITIB und die dortige Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ).
(IRU in den Bundesländern, Stand 2020)
Weitere Studien zu Fragen des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland
Einen explorativen Überblick über das junge empirische Forschungsfeld zum Islamischen Religionsunterricht bietet die Soziologin Anna Körs in Ihrem 2023 im Springer Verlag veröffentlichten Sammelband „Islamischer Religionsunterricht in Deutschland. Ein Kaleidoskop empirischer Forschung“. Die Herausgeberin fasst die wissenschaftliche Auseinandersetzung in diesem Themenfeld in vier übergeordnete Fragestellungen zusammen: 1) Einstellungen und Kompetenzen (angehender) IRU-Lehrkräfte und Gestaltung ihrer Ausbildung und Professionalisierung. 2) Einschätzung unterschiedlicher IRU-Modelle aus Sicht beteiligter Akteursgruppen (Schüler_innen, Eltern, Lehrkräfte). 3) Erwartungen muslimischer Schüler_innen an den IRU und Orientierung des IRU anhand religiöser Dispositionen und Lebenswelten muslimischer Kinder und Jugendlicher. 4) Praxisumsetzung der Erwartungen an dem IRU und Wahrnehmung des IRU als Teil einer integrationsfördernden Islampolitik. Die 2021 herausgegebene AIWG-Expertise „Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: Qualität, Rahmenbedingungen, Umsetzung“, verfasst von Prof. Dr. Fahimah Ulfat, Esra Yavuz und Dr. Jan Felix Engelhardt, beleuchtet die strukturellen und qualitativen Aspekte des islamischen Religionsunterrichts und identifiziert die fehlende Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften als zentrale Hürde für dessen flächendeckende Einführung. Sie stellen zudem die unterschiedlichen Modelle vor, die in einzelnen Bundesländern mit wissenschaftlicher Begleitung und staatlicher Supervision erprobt werden, und heben die Notwendigkeit von Standards in der Lehrkräfteausbildung hervor. Die Autor_innen stellen außerdem in Ihrer Arbeit fest, dass in den Diskussionen über den Islamischen Religionsunterricht relevante Themen oft zu kurz kommen: Dazu zählen die Qualität des Unterrichts, die fehlende empirische Unterrichtsforschung, der Auf- und Ausbau des Islamischen Religionsunterrichts sowie die positiven Effekte, die Religionsunterricht – egal welcher Konfession oder Glaubensrichtung – für eine Gesellschaft haben kann.
Die AIWG Expertise zur Frage „Wer studiert Islamische Theologie? Ein Überblick über das Fach und seine Studierenden“ von Lena Dreier und Constantin Wagner bietet detaillierte Einblicke in die Zusammensetzung und Motivationen der Studierenden der Islamisch-Theologischen Studien in Deutschland. Sie zeigt, dass die Mehrheit der Studierenden in ihrer Studienwahl die Möglichkeit sehen, Verantwortung für Gesellschaft und Gemeinde zu übernehmen. Qualitative Befragungen haben dabei ergeben, dass es Ihnen um stark um Wissensaneignung für ein besseres Islamverständnis geht. Sie haben das Ziel, gesellschaftspolitisch aktiv zu sein und das Zusammenleben sowie das Gemeinwesen positiv zu verändern.
Welchen Beruf Absolvent_innen der islamischen Theologie und Religionspädagogik nach ihrem Studium ergreifen, wird von einem interdisziplinären Team um Naime Çakir-Mattner und Constantin Wagner in der Publikation „Berufsfeld Islam? Zur Berufseinmündung und Professionalisierung von Absolvent_innen der Islamisch-Theologischen Studien“ analysiert. Diese Studie untersucht die beruflichen Wege und Herausforderungen der Absolvent_innen islamisch-theologischer Studiengänge und zeigt, dass viele Absolvent_innen in sozialen und pädagogischen Berufsfeldern tätig sind. Fast 40% der 210 Teilnehmer_innen dieser Untersuchung haben einen Studiengang mit Lehramtsoption abgeschlossen. Dabei wurde ermittelt, dass Lehramtsabsolvent_innen zu zwei Dritteln ihren Studiengang wiederwählen würden. Die Autor_innen stellen fest, dass die vergleichsweise hohe Zufriedenheit bei Absolvent_innen mit Lehramtsoption durch den erfolgten Aufbau eines regulierten Berufsfelds mit einer standardisierten und zertifizierten Ausbildung gut erklärbar sei. Sie fanden allerdings auch heraus, dass IRU-Lehrkräfte häufig von erhöhten strukturellen Hürden und Belastungen berichten, da sich der islamische Religionsunterricht noch im Aufbau befindet.
Der Artikel wird fortlaufend aktualisiert.