Islamische Ethik – ein disziplinübergreifendes Geflecht normativer Diskurstraditionen
Theolog_innen aus verschiedenen Standorten der deutschsprachigen islamisch-theologischen Studien kamen Ende November in Münster zur Fachtagung „Die Entflechtung der Islamischen Ethik – Versuche einer wissenschaftstheoretischen Verortung einer neuen Disziplin“ zusammen. Zwei Tage diskutierten die mehr als 80 Fachinteressierten aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen das Für und Wider für eine Islamische Ethik als eigenständige Disziplin. Der Arbeitsbereich „Islamische Philosophie mit dem Schwerpunkt Ethik“ des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster (ZIT) hatte die Tagung in Zusammenarbeit mit der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) organisiert.
Professorin Asmaa El Maaroufi eröffnete die Tagung mit einem Podiumsgespräch, an dem Prof. Ahmad Milad Karimi und Prof. Serdar Kurnaz als Podiumsgäste teilnahmen. Im Zentrum des Gesprächs standen die Definition, das Spezifikum sowie die disziplinäre Verortung der Islamischen Ethik. Dabei wurden zentrale Fragen thematisiert, etwa was das spezifisch „Islamische“ an der islamischen Ethik ausmache, wie moralische Objektivität begründet werden könne und wie zwischen philosophischen Kategorien wie gut/böse und islamrechtlichen Kategorien wie erlaubt/verboten zu differenzieren sei. Die Diskussion führte zu einer Beschreibung der dualen Charakteristik der Islamischen Ethik sowohl als Querschnittsdisziplin, die Gegenstand der Betrachtung verschiedener islamisch-theologischer Fachdisziplinen ist, als auch als eigenständige Disziplin, die anthropologische und metaethische Fragestellungen umfasst. Mit der Klärung grundlegender Begriffe, Perspektiven und zentraler Fragestellungen legte das Podiumsgespräch die thematische Grundlage für die weiteren Diskussionen der Tagung.
Am ersten Tag beleuchteten Prof. Dr. Mira Sievers, Institut für Islamische Theologie, Universität Hamburg, und Dr. Hureyre Kam, Religionswissenschaftliches Seminar der Universität Zürich, systematisch-theologische und philosophische Zugänge zur Islamischen Ethik. Prof. Sievers untersuchte kritisch die Tendenz, Herausforderungen des digitalen Zeitalters mit Schaden-Nutzen-Abwägungen bzw. einem konsequentialistischen Ansatz zu begegnen, und reflektierte die ethischen Implikationen dieses Ansatzes im islamisch-ideengeschichtlichen Kontext, während Dr. Kam sich des Transhumanismus als einer gegenwärtigen ethischen Herausforderung annahm und dafür plädierte, islamische Ethik als eine Verantwortungsethik zu denken und dabei den taklīf-Begriff über die Grenzen der klassisch-islamischen Rechtsnormen hinaus zu erweitern, um transhumanistischen Herausforderungen gerecht werden kann.
Der zweite Tag widmete sich den textwissenschaftlichen, mystischen und rechtstheoretischen Perspektiven. Prof. Dr. Mohammed Nekroumi, Department Islamisch-Religiöse Studien, Universität Erlangen-Nürnberg, und Prof. Dr. Ruggero Vimercati Sanseverino, Zentrum für Islamische Theologie, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, präsentierten exegetische und hadithwissenschaftliche Annäherungen an die islamische Ethik, während PD Dr. Raid Al-Daghistani, ZIT, die Verbindung zwischen Islamischer Mystik und Islamischer Ethik untersuchte. Prof. Nekroumi legte dar, wie Emotionen in der islamischen Ethik als affektive Komponenten eine entscheidende Rolle spielten und in der islamischen Rationaltheologie berücksichtigt werden sollten. Prof. Vimercati Sanseverino diskutierte die Bedeutung des Hadiths und seine Rolle bei der Erschließung des „guten Lebens“ im islamischen Kontext. PD Dr. Al-Daghistani beleuchtete den Sufismus als mystische Tradition und deren ethische Dimension.
Das abschließende Panel befasste sich mit rechtstheoretischen Perspektiven. Prof. Dr. Rana Alsoufi, Institut für Studien der Kultur und Religion, Goethe-Universität, und Prof. Dr. Cefli Ademi, ZIT, untersuchten die Verflechtung von Ethik und Recht im Islam, wobei Prof. Alsoufi die Frage erörterte, ob die islamische Normenlehre als Grundlage für eine Islamische Ethik dienen könne. Prof. Ademi diskutierte die ethische Legitimation von „Kollateralschäden“ im Kontext von Kriegen und wie rechtliche Normen und ethische Überlegungen sich überschneiden können.
Islamische Ethik als eigenständige Disziplin?
Im Verlauf der Tagung wurden in insgesamt sechs Panels verschiedene Perspektiven auf die Islamische Ethik und ihre disziplinäre Verortung vorgestellt. Zu den zentralen Herausforderungen gehörte die Frage, was das spezifisch Islamische an der Islamischen Ethik sei und wie sich das Verhältnis islamisch-ethischer Diskurse zu den bestehenden, klassischen Disziplinen der Islamischen Theologie bestimmen lasse. Islamische Ethik wurde als ein vielschichtiges Feld herausgestellt, das in allen islamischen Disziplinen ethische Fragestellungen aus jeweils eigener Perspektive verhandelt. Sie wurde sowohl als Querschnittsdisziplin verstanden, die verschiedene normative Diskurse der islamischen Geistesgeschichte miteinander verbindet, als auch als eigenständige Disziplin mit spezifischen Erkenntnisinteressen und methodischen Zugängen. Diese zeichneten sich durch systematische Reflexion und kritische Grundlagenarbeit aus und seien ebenso wenig relativier- oder ersetzbar wie die ethischen Auseinandersetzungen innerhalb der klassischen Disziplinen der Islamischen Theologie. Ziel der islamisch-ethischen Diskurse sei es nicht nur, normativ-ethische Handlungsanweisungen abzuleiten, sondern auch meta-ethisch die philosophischen und theologischen Grundlagen zu reflektieren.
Ein Konsens, der sich im Laufe der Tagung herauskristallisierte, war, dass jede Disziplin aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive heraus eigene Zugänge zu ethischen Fragen bietet. Kontrovers diskutiert wurde jedoch, ob die Islamische Ethik als eigenständige Disziplin zu verstehen sei oder ob eine übergreifende Leitdisziplin, wie etwa die Philosophie, ihre disziplinäre Heimat darstellen sollte. Eine kritische Haltung, die mehrfach zum Ausdruck kam, war, dass die Annahme einer „schon immer existenten“ Islamischen Ethik als anachronistisch und problematisch betrachtet werden muss. Stattdessen sollte Islamische Ethik als ein disziplinübergreifendes Geflecht normativer Diskurstraditionen verstanden werden, das bei der Beantwortung konkreter ethischer Fragestellungen eine flexible Kombination von verschiedenen Ressourcen und Perspektiven erfordert.
Die gegenwartsbezogene Relevanz der Islamischen Ethik wurde während der gesamten Tagung betont. Durch ihre Einspeisung in gesellschaftliche Diskurse nehme sie aktiv Einfluss auf aktuelle ethische Auseinandersetzungen und bringe theologische und philosophische Zugänge in ein produktives Spannungsverhältnis. Die Frage nach der disziplinären Verortung der islamischen Ethik bleibt jedoch offen und verdeutlicht, dass die Entwicklung einer eigenständigen islamischen Ethik ein fortwährender Prozess ist.
Die Tagung bot eine einzigartige Gelegenheit, islamisch-ethische Diskurse auf wissenschaftstheoretischer Ebene zu erörtern und Perspektiven für die interdisziplinäre Forschung und Praxis zu entwickeln.
Die Ergebnisse der Tagung werden in einem Sammelband veröffentlicht.