Normativität des Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels

Projektbeschreibung

Im Zentrum des Projekts stand eine umfassende hermeneutische und sozialethische Untersuchung der Koranverse, denen in der exegetischen und juristischen Tradition des Islams ein normativer Wert zugeschrieben wird. Der Diskurs um den rechtlichen Stellenwert dieser Normenverse (ayāt al-aḥkām) sowie deren Verbindlichkeit ist beinahe so alt wie der Koran selbst. Heute rücken die Normenverse vermehrt in den Fokus von Ethik- und Säkularisierungsdebatten. Die bis in die Moderne hinein verfestigte traditionelle Vorstellung einer festgefügten islamischen Rechtsordnung ist vor allem in Lebenskontexten außerhalb muslimischer Mehrheitsgesellschaften nicht mehr haltbar.

Der gewählte Ansatz basierte auf einem Verständnis der Normenverse, der die ethische Substanz des Korans sowie reale Orientierungsfragen der Muslime in den Vordergrund stellt und herkömmliche Gut-Böse-Dichotomien (rechtgläubig-falschgläubig, erlaubt-verbotenhinterfragt. Die Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand erfolgte interdisziplinär aus den Fachperspektiven der Koranwissenschaften, des Islamischen Rechts und der Islamischen Religionspädagogik.

Als Spiegel der Untersuchung der Normenverse fungierte das Ethikprinzip der Selbstbestimmung. Dieses verkörpert den Wunsch vieler Muslim_innen, als  Individuen  ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dieser schließt persönliche religiöse Überzeugungen und Haltungen sowie die Möglichkeit der Bildung einer Gemeinschaft mit ein, die sich aktiv und lösungsorientiert mit den bestehenden Herausforderungen auseinandersetzt.

Die Untersuchung der Normenverse wurde an drei Themenschwerpunkten vorgenommen:

  1. Das Menschenbild in den Normenversen und ihre Deutung (beispielsweise Fragen zur Natur der Beziehung zwischen Menschen und Gott in den Normenversen und deren Deutung)
  2. Person und Gemeinschaft – soziale Interaktion (beispielsweise Fragen zur Geschlechtergerechtigkeit, der Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie zu Konfliktlösungsstrategien)
  3. Fragen des interreligiösen Zusammenlebens (beispielsweise moralische Vorstellungen von Muslim_innen über die Lebensweise Andersgläubiger, Konzepte zur interreligiösen Ehe oder Speisevorschriften und damit verbundene Konflikte in einem multireligiösen Umfeld).

Das Forschungsprojekt hatte das Ziel, die Debatte über die Normenverse des Korans anhand eines multidimensionalen Ansatzes wissenschaftlich zu ordnen und in einen direkten Bezug zu praktischen Fragestellungen von Muslim_innen in Deutschland zu bringen.

 

Projektergebnisse

 

Veranstaltungen

Zum Schwerpunkt Hermeneutik setzte sich die Forschungsgruppe insbesondere mit dem hermeneutischen Verständnis der Normenverse im Koran auseinander. Die ersten Ergebnisse dieser Forschung wurden auf mehreren Konferenzen vorgestellt, unter anderem bei der internationalen Konferenz Hermeneutics of Quranic Norm Change in Erlangen am 14. und 15. Oktober 2021.

Im rechtswissenschaftlichen Schwerpunkt ging es um die Rezeption von Normenversen in der Rechtsliteratur, wo sie als Grundlage zur Ableitung von Normen verwendet werden. Diese konnten im Rahmen einer vom Standort Tübingen durchgeführten Online-Fachtagung im Mai 2022 mit internationalen Wissenschaftler_innen aufgearbeitet werden.

Um Erkenntnisse aus dem religionspädagogischen Schwerpunkt in die Gesellschaft zu transferieren, wurden zwei Online-Fachtage für interessierte Lehrer_innen des islamischen Religionsunterrichts im Jahr 2021 veranstaltet. Im Januar widmete man sich dem Thema „Normativer Gehalt der islamischen Tradition – Verbindlichkeiten zwischen religiöser Norm und Selbstbestimmung“. Insbesondere Normverse mit Bezug zu Geschlechterdifferenz, Legitimation von Gewalt oder Umgang mit Andersgläubigen, stellen muslimische Religionslehrkräfte vor enorme Herausforderungen. Auf diesem Fachtag hatten Lehrkräfte die Gelegenheit, den normativen Gehalt der theologischen Tradition im Spannungsfeld zwischen der religiösen Norm und der Selbstbestimmung des Menschen mit den Projektbeteiligten zu diskutieren.

Im November 2021 gab es einen weiteren Online-Fachtag für Lehrer_innen des islamischen Religionsunterrichts, diesmal zum Thema „Die Symbolsprache des Korans im Islamischen Religionsunterricht“. Nach einer theologisch-theoretischen Einführung in die Symboldidaktik wurden mögliche Ansätze für den Islamischen Religionsunterricht diskutiert.

Im Juni 2022 konnte die Longterm-Forschungsgruppe auf dem interdisziplinären AIWG-Fachkongress „Islam in Texten, Normen und Lebenswelten“ in Frankfurt am Main zusammenkommen, und die Forschungsergebnisse der vergangenen vier Jahre einem breiten Fachpublikum aus den Islamisch-theologischen Studien im deutschsprachigen Raum vorstellen.

 

Veröffentlichungen

Hauptergebnis der Longterm-Forschungsgruppe ist ein Sammelband, der die Erkenntnisse aus der vierjährigen Forschung aus der Perspektive der drei Teildisziplinen Texthermeneutik, Islamisches Recht und Religionspädagogik vorweist. Dabei war der Blick insbesondere auf die Bedeutung koranischer Normenverse für muslimische Lebenswelten in Deutschland gerichtet.

  • Ulfat, F.; Khalfaoui, M.; Nekroumi, M.: Normativität des Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels – Theologische und Religionspädagogische Perspektiven, Reihe: Theologie, Bildung, Ethik und Recht des Islam, Band 6, Baden-Baden: Nomos. Zur Open Access Ausgabe / Zur Newsmeldung

Zum Abschluss der ersten Phase des Projekts wurden zudem Ergebnisse aus der interdisziplinären Forschung in einem AIWG WiFo paper präsentiert. Zwei Theologen stellten darin verschiedene Modelle koranischer Normativität vor. Daneben reflektiert eine Religionslehrerin Möglichkeiten für die Diskussion von Normenversen in der religionspädagogischen Praxis. Zur Pressemitteilung

 

Weitere Publikationen aus der Forschungsgruppe

El-Maghraoui, Abdelaali:

  • Nachhaltigkeit und menschliches Wohlergehen in der Islamischen Theologie – Wie kann das gelingen? In: M. Khalfaoui/ J. Ehret (Hg.), Islamische Theologie in Deutschland – Ein Modell für Europa und die Welt, München: Herder, 2021, S. 210-235.
  • Quranic imperatives in interaction with law and society. In: Chris Doude van Troostwijk (ed.), Scriptural hermeneutic and financial ethics: a conundrum? Berlin: Peter Lang 2021 ( 16).
  • Rechtshandlung – Eine islamische Perspektive. In: Heribert Hallermann u.a. (Hrgs.), Lexikon Kirchen und Religionsrecht, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, Bd. 3, S. 787-789.

Suleiman, Farid:

  • Schuldfähigkeit trotz fehlender Willensfreiheit? Eine Analyse der Position Ibn Taymiyyas. Mit einer Übersetzung seiner al-Qaṣīda at-tāʾiyya. Der Islam, Vol. 97 (Issue 1), 2020, pp. 172-202. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1515/islam-2020-0007
  • Fitra, Sünde und Zweifel im Koran. Eine sprachpragmatische Annäherung mit Wittgenstein. Hikma, vol. 12, no. 2, 2021, ab S. 119;
  • The Philosophy of Taha Abderrahman. A Critical Study. Die Welt des Islams 61:1 (2021), S. 39-71. Abrufbar unter: https://brill.com/downloadpdf/journals/wdi/61/1/article-p39_39.xml

 

Projektleitung

Prof. Dr. Mohammed Nekroumi, Department Islamisch-Religiöse Studien an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Prof. Dr. Mouez Khalfaoui, Zentrum für Islamische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Jun.-Prof. Dr. Fahimah Ulfat, Zentrum für Islamische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen

 

Projektlaufzeit

September 2018 – September 2022