AIWG veröffentlicht Expertise „Wer studiert Islamische Theologie?“
Mehrheit der Studierenden will sich gesellschaftlich einbringen
- Expertise bietet erstmals Einblick über das Fach und seine Studierenden
- 80% der Studierenden sind weiblich
- Fast drei Viertel der Studierenden stammen aus einem nichtakademischen Elternhaus
- Viele Studierende wollen sich aktiv in die Gesellschaft einbringen
- klare Berufsperspektiven für Absolvent_innen fehlen bislang
Frankfurt am Main. Seit knapp zehn Jahren bilden mittlerweile elf Hochschulen in Deutschland Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht und muslimische Theolog_innen aus. Aktuell gibt es knapp 2.500 Studierende. Doch wer studiert Islamische Theologie oder Religionspädagogik? Was sind die Beweggründe, dieses noch relativ junge Fach zu studieren? Antworten geben Lena Dreier und Constantin Wagner, die beiden Autor_innen der Expertise „Wer studiert Islamische Theologie? Ein Überblick über das Fach und seine Studierenden“. Die heute veröffentlichte Expertise wurde von der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) in Auftrag gegeben.
Wie setzt sich die Studierendenschaft zusammen?
Die Expertise nimmt zum ersten Mal die Studierenden der Islamischen Theologie genauer in den Blick. Auffällig ist, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen weiblich ist. Circa 70% der Studierenden sind zudem die ersten in ihrer Familie, die eine Universität besuchen. Knapp 80 % der Studierenden haben Deutsch nicht als Muttersprache erlernt. Damit unterscheidet sich die Studierendenschaft laut den Autor_innen der Expertise stark von anderen Fächern. „Da im Vergleich zu anderen Studiengängen überdurchschnittlich viele Studierende mit relativ wenig Bildungskapital in die Universität einsteigen, ist es nötig, die Didaktik des Fachs inhaltlich und finanziell zu stärken, sodass viele Studierende zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden können“, so Constantin Wagner.
Warum studieren junge Menschen Islamische Theologie?
Die Gründe, ein Studium der Islamischen Theologie aufzunehmen, sind ebenso vielfältig wie der biografische, kulturelle oder religiöse Hintergrund der Studierenden selbst. Allerdings zeichnen sich laut Autor_innen zwei Hauptmotive ab: Religiöse und gesellschaftspolitische Beweggründe sind für die Mehrheit der Studierenden bei ihrer Studienwahl entscheidend. Über 90% der Studierenden fühlen sich dem Islam sehr stark oder stark zugehörig. Religion spielt im Alltag der Studierenden eine große Rolle. Daneben fühlt sich über die Hälfte der Studierenden einer muslimischen Gemeinde zugehörig. Mehr als 60% der Studierenden bringen ein starkes Interesse an religiösen Fragestellungen mit.
Während dies bei einem religionsbezogenen Studiengang wenig überrascht, sticht der Wunsch der Studierenden, gesellschaftsverändernd zu wirken, besonders hervor, insbesondere im Vergleich zur Gesamtstudierendenschaft an deutschen Hochschulen. Die Studierenden wollen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Jedoch nicht nur innerhalb der Berufsfelder, über die häufig diskutiert und zumeist von außen an die Studierenden herangetragen wird: Imame und Lehrer_innen für den islamischen Religionsunterricht.
Wie lässt sich dieser starke Wunsch nach Veränderung bei den Studierenden erklären? Laut den Autor_innen spielen hier biografische Erfahrungen während der Schulzeit eine Rolle. Sie gaben an, als Muslim_in adressiert, mitunter auch diskriminiert worden zu sein. Professionalisierungsstrategien anzubieten, etwa im Umgang mit Fremdzuschreibungen, bilde bislang noch eine Leerstelle im Curriculum. „Die Vorerfahrungen der muslimischen Studierenden und ihre Adressierung als Muslim_in ist für sie als Teil ihres Studiums der Islamischen Theologie zentral“, sagt Lena Dreier.
Studierende der Islamischen Theologie brauchen klare Berufsperspektiven
Die Interviews mit den Studierenden zeigen, dass es zukünftig noch stärker darum geht, den Studierenden Berufsperspektiven deutlicher aufzuzeigen und zu ermöglichen – auch schon im Studium. Absolvent_innen der Islamischen Theologie sehen aufgrund der unklaren Berufsperspektiven aktuell nur selten konkrete Anschlussperspektiven. Aber auch für Lehramtsstudierende bestehen noch Unsicherheiten über die Ausrichtung und weitere Etablierung des islamischen Religionsunterrichts, etwa in Bayern und Hessen. Erschwerend hinzu kommt, dass es vielen Absolvent_innen an Vorbildern und Mentor_innen in der Berufswelt fehlt.
Prof. Dr. Bekim Agai, Direktor der AIWG, über die Ergebnisse der Expertise:
Die Studie zeigt, dass die Absolvent_innen sehr motiviert sind, sich in der Gesellschaft und den Gemeinden einzubringen. Dabei ist vielen unklar, wie sie das im Rahmen von konkreten Berufen tun können. Hier kommt es jetzt auf die Akteur_innen in denjenigen Handlungsfeldern an, in denen ihre Expertise gefragt ist. Sie müssen Berufsperspektiven für ein neues Qualifikationsprofil öffnen. Hierfür kann das Fach selbst einen Beitrag leisten, indem es die eigenen Qualifikationsleistungen stärker nach außen trägt.“
Dr. Jan Felix Engelhardt, Geschäftsführer an der AIWG, über die Ergebnisse der Expertise:
„Fast drei Viertel der Studierenden der Islamischen Theologie stammen nicht aus akademischen Elternhäusern. Sie sind die ersten in ihrer Familie, die studieren. Damit ermöglichen die islamisch-theologischen Studien an deutschen Universitäten Geschichten von Bildungsaufstieg, von gesellschaftlicher Partizipation und von sozialer Anerkennung in unserer Wissensgesellschaft. Jetzt gilt es, diese Potenziale nutzbar zu machen.“
Über die Autor_innen:
Lena Dreier ist Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und forscht an der Universität Leipzig.
Constantin Wagner ist Juniorprofessor für Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Heterogenität an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Für die Expertise haben die beiden Autor_innen narrative Interviews mit insgesamt 71 Studierenden an vier Standorten geführt. Die Befragungen fanden zwischen 2016 und 2019 statt.
Die vollständige Publikation kann auf der Website der AIWG unter https://aiwg.de/wp-content/uploads/2020/03/Wer-studiert-islamische-Theologie_Expertise.pdf kostenfrei heruntergeladen werden.
Über die Publikationsreihe „AIWG-Expertisen“ und „AIWG in puncto“:
Mit ihren Publikationsreihen „AIWG-Expertisen“ und „AIWG in puncto“ möchte die AIWG Wissensbedarfe zum Islam in Deutschland decken, Debatten versachlichen sowie Erkenntnislagen verbessern. Den von Expert_innen erarbeiteten Wissensstand, ihre Einschätzung und Diskussionspunkte stellt die AIWG in anschaulicher Form einer breiten Öffentlichkeit bereit. Die AIWG-Expertisen präsentieren eine vertiefte Erörterung des jeweiligen Themas. AIWG in puncto behandelt eine konkrete Fragestellung in Kurzform und stellt thesenartige Einschätzungen zur breiten Diskussion.
Über die AIWG
Die AIWG ist eine universitäre Plattform für Forschung und Transfer in islamisch-theologischen Fach- und Gesellschaftsfragen. Sie ermöglicht überregionale Kooperationen und Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der islamisch-theologischen Studien und benachbarter Fächer sowie Akteurinnen und Akteuren aus der muslimischen Zivilgesellschaft und weiteren gesellschaftlichen Bereichen. Die AIWG wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Stiftung Mercator.
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