Imamausbildung in Deutschland – AIWG veröffentlicht Expertise
Wie kann die Ausbildung akademisch qualifizierter Imame in Deutschland mit den Erwartungen und Bedarfen von muslimischen Gemeinden in Einklang gebracht werden? Eine Möglichkeit ist die Errichtung eines Imamseminars für Absolventen der Islamischen Theologie, mit einem Curriculum, das sich an den Bedarfen der muslimischen Gemeinden orientiert. Dies empfiehlt Prof. Dr. Dr. Rauf Ceylan vom Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück in seiner von der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft in Auftrag gegebenen Expertise „Imamausbildung in Deutschland. Perspektiven aus Gemeinden und Theologie“, die heute veröffentlicht wurde.
Die Etablierung der islamisch-theologischen Studien in Deutschland stellt für die strukturelle Gleichberechtigung des Islams einen Meilenstein dar. Doch das Potenzial, das die Islamische Theologie für Menschen muslimischen Glaubens und die muslimischen Gemeinden in Deutschland birgt, ist noch lange nicht ausgeschöpft – insbesondere bei der Ausbildung akademisch qualifizierter Imame in Deutschland, so Rauf Ceylan in seiner Expertise.
Diese Einschätzung resultiert aus umfangreichen Gesprächen mit Vertreter_innen muslimischer Gemeinden in Niedersachsen und Studierenden der Islamischen Theologie. Im Zentrum stand die Frage, welche Erwartungen muslimische Gemeinden an die Kompetenzen und Funktion eines Imams stellen und wie sich Studierende, die sich für den Imamberuf interessieren, auf ihre zukünftige Aufgabe vorbereitet fühlen. Ceylan führte dazu Gespräche mit den niedersächsischen muslimischen Landesverbänden Schura, DITIB und Muslime in Niedersachsen sowie wie mit dem Liberal-Islamischen Bund (LIB). Die Erfahrungen und Erwartungen der Studierenden erfragte er in Gesprächen mit Studierenden der Islamischen Theologie an der Universität Osnabrück.
Die Gesprächsergebnisse zeigen einerseits, dass Imame in vielen Gemeinden wertvolle und engagierte Arbeit leisten, zum Beispiel wenn es um persönliche Anliegen der Mitglieder, alltagspraktische theologische Fragen oder die Durchführung religiöser Rituale geht. Andererseits ist die theologisch-religionspädagogische Qualifizierung von Imamen in vielen Fällen nicht zufriedenstellend. Eine geringe Orientierung an den Lebenswelten jüngerer Gemeindemitglieder sowie fehlende bzw. schlechte Deutschkenntnisse bei vielen Imamen stellen für Gemeinden besondere Herausforderungen dar.
Aufseiten der Studierenden wird insbesondere der starke Theoriebezug des Studiums der Islamischen Theologie bemängelt. Dadurch fühlen sich die Studierenden zwar qualifiziert, auf akademisch-theoretische Fragen zu antworten und auch zu interreligiösen Fragen Stellung zu beziehen. Jedoch fehlt der Bezug zur praktischen Gemeindearbeit. Auch wenn es nicht Aufgabe der Universitäten ist, die inhaltlichen und praktischen Kompetenzen zur Leitung einer Gemeinde zu vermitteln, so äußerten die Studierenden dennoch den Wunsch nach einem stärkeren Praxisbezug während des Studiums, um auf diese Weise bei Interesse für den Imamberuf besser auf diesen vorbereitet zu sein.
Auf der Grundlage seiner Gesprächsergebnisse empfiehlt Ceylan, ein Imamseminar in Verantwortung der Religionsgemeinschaften auf Landesebene zu errichten. Darin sollen sich Absolventen der Islamischen Theologie die nötigen inhaltlichen und praktischen Kompetenzen aneignen können, die sie für den Beruf des Imams benötigen. Zunächst solle in einem Modellversuch im Land Niedersachsen definiert werden, wie die inhaltlichen und praktischen Qualifikationen, die für die Tätigkeit als Imam erforderlich sind, von den Religionsgemeinschaften und der Islamischen Theologie gemeinsam vermittelt werden können. Das Curriculum eines Seminars zur Imamausbildung müsse sich dabei an den Bedarfen und Erwartungen der muslimischen Gemeinden orientieren – mögliche Inhalte könnten daher u.a. Religions- und Gemeindepädagogik, Basiswissen für religiös-praktische Fragen oder die Vermittlung interkultureller und interreligiöser Kompetenzen sein.
Dass solch ein Modellversuch besonders in Niedersachsen auf fruchtbaren Boden treffen könnte, erklärt Ceylan aufgrund der Tatsache, dass die muslimischen Gemeinden im niedersächsischen Raum organisatorisch sehr gut strukturiert sind und der Einstellung von in Deutschland studierten Imamen aufgeschlossen gegenüberstehen. Zudem kann aufseiten der Theologie das Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück derzeit als einziger Standort auf Erfahrungen in der Weiterbildung von Imamen zurückgreifen. Auch auf politischer Ebene stehen laut Ceylan die Zeichen günstig: so sieht der Koalitionsvertrag von SPD und CDU vor, eine Imamausbildung zu unterstützen.
„Die Ergebnisse der Expertise zeigen, dass eine ordentliche Imamausbildung in Deutschland dringend implementiert werden muss“, sagt Rauf Ceylan. „Daher sollten die muslimischen Gemeinden gemeinsam mit der Politik und den Theologien den Mut haben, Schritte zur Gründung eines Imamseminars zu planen.“
Pro. Dr. Bekim Agai, Direktor der AIWG, erklärt: „Die Perspektive aus Gemeinden und Wissenschaft stellt einen wichtigen Beitrag zur Klärung der gegenseitigen Erwartungen aller Beteiligten dar. Unsere Hoffnung ist daher, dass diese Expertise einen wichtigen Impuls zur Versachlichung des mit Erwartungen und Projektionen aufgeladenen Themas der Imamausbildung in Deutschland geben kann.“
Die vollständige Expertise kann auf der Website der AIWG unter https://aiwg.de/wp-content/uploads/2019/06/AIWG-Expertise_Imam-Ausbildung.pdf kostenfrei heruntergeladen werden.
Mit ihren Publikationsreihen „AIWG-Expertisen“ und „AIWG in puncto“ möchte die AIWG Wissensbedarfe zum Islam in Deutschland decken, Debatten versachlichen sowie Erkenntnislagen verbessern. Den von Expert_innen erarbeiteten Wissensstand, ihre Einschätzung und Diskussionspunkte stellt die AIWG in anschaulicher Form einer breiten Öffentlichkeit bereit. Die AIWG-Expertisen präsentieren eine vertiefte Erörterung des jeweiligen Themas. AIWG in puncto behandelt eine konkrete Fragestellung in Kurzform und stellt thesenartige Einschätzungen zur breiten Diskussion.
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