Forschungsgruppe veröffentlicht systematisierende wissenschaftliche Erörterung
Prof. Dr. Ruggero Vimercati Sanseverino und Dr. Hossam Ouf besprechen in ihrem Artikel „Hadith als Problem?“, der kürzlich im Handbuch für Islamische Religionspädagogik erschienen ist, die Herausforderungen und Methoden der Interpretation „problematischer“ Hadithe in der Islamischen Theologie und deren Relevanz in modernen Kontexten. Ihr Beitrag widmet sich einer der zentralen Forschungsfragen des Tübinger Teilprojektes: Unter welchen Voraussetzungen werden in der klassischen hadithwissenschaftlichen Disziplin und Literatur Hadithe als „problematisch“ bzw. „kontrovers“ kategorisiert und mit welchen Ansätzen wird dort versucht, den problematischen Charakter dieser Hadithe aufzulösen?
Nach Ansicht der Autoren ist die Frage nach dem Umgang mit „kontroversen“ oder „problematischen“ Hadithen von zentraler Bedeutung, da er sich auf die Glaubensüberzeugungen und -praxis von Muslim_innen auswirkt. Als Zeugnisse über das Leben des Propheten geben Hadithe Muslim_innen auch heutzutage grundlegende Orientierung und werfen gesellschaftliche und ethische Fragen auf. Daher ist es umso wichtiger, dass die Islamische Theologie dazu beiträgt, Diskussionen um „kontroverse Hadithe“ zu versachlichen.
In ihrem Beitrag geben die beiden Autoren zunächst einen historischen Einblick in die systematische Auseinandersetzung mit mehrdeutigen, schwer verständlichen oder für die praktische Umsetzung „problematischen“ Hadithen. Dabei werden innerislamische Diskussionen aufgenommen und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen einbezogen. Des Weiteren geben sie einen Überblick über die klassischen Kategorisierungen und Methoden, die herangezogen wurden, um kontroverse Hadithe einzuordnen. Im Anschluss werden historische Gelehrte aufgeführt und deren Ansätze zur Analyse „problematischer“ Hadithe vorgestellt. Ziel der Gelehrten war und ist es, scheinbare Widersprüchlichkeiten oder Unklarheiten, die beispielsweise durch zwei sich widersprechende Hadithe oder Hadithe, die Koranversen widersprechen, entstehen können, durch Harmonisierung, Favorisierung oder Aufhebung (Abrogation) in Einklang zu bringen. Dabei wird unter anderem deutlich, dass Hadithe, die heute als problematisch empfunden werden, auch von klassischen Hadith-Gelehrten problematisiert worden sind. Wobei sich die Schwerpunktsetzung unterscheidet. Als Beispiel führen die Autoren folgenden kontroversen Hadith an: „Das böse Omen liegt in drei Dingen: einer Frau, einem Pferd und einem Haus“. Klassische Hadith-Gelehrte ordneten diesen Hadith als „problematisch“ ein aufgrund seiner Aussage über „böse Omen“, da Aberglaube nicht mit dem Islam vereinbar sei. Heutzutage steht die scheinbare frauenverachtende Haltung des Propheten im Zentrum der Diskussion.
Zuletzt werfen die Autoren einen Blick auf die Aufgaben und Herausforderungen einer zeitgenössischen Hadithwissenschaft und des Umgangs mit kontroversen Hadithen angesichts säkularer und pluraler Gesellschaften. Abschließend plädieren die Autoren für eine sachgerechte Problematisierung von Hadithen, die zwischen der Erfahrungsdimension des Hadith und den sich gesellschaftlich wandelnden Erwartungen an den Text unterscheidet.
Vimercati Sanseverino, Ruggero und Hossam Ouf: Hadith als Problem? Muškil al-ḥadīṯ und theologisch-hermeneutische Voraussetzungen für den Umgang mit ‚problematischen‘ Hadithen, in: Hakan Aydin: Handbuch für Islamische Religionspädagogik. PLURAL Publications, 2024, S. 14–40.