Internationale Tagung bildet erfolgreichen Abschluss der AIWG-Projektwerkstatt „Kanon und Zensur in der islamischen Ideen- und Theologiegeschichte“
Die AIWG-Projektwerkstatt „Kanon und Zensur in der islamischen Ideen- und Theologiegeschichte“ hat vom 08. bis 10. Oktober 2021 ihre Ergebnisse auf einer internationalen Tagung in Berlin vorgestellt. Wissenschaftler_innen aus dem In- und Ausland präsentierten zwei Tage lang sowohl digital als auch analog 26 Fallstudien.
Die Tagung „Canon and Censorship in the Islamic Intellectual and Theological History“ bildete den Abschluss der einjährigen Projektwerkstatt, eines gemeinsamen Forschungsprojekts des Berliner Instituts für Islamische Theologie, des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam der Goethe-Universität Frankfurt am Main und des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft, Universität Freiburg i.Ü.
In der jüngeren Forschungsliteratur zur islamischen Ideengeschichte sind vermehrt Ansätze etabliert worden, die den Islam als diskursive Tradition verstehen, die Ambiguitätstoleranz der muslimischen Wissenskultur in vormodernen Gesellschaften betonen und gängige Narrative darüber, was „Islam“ und „islamisch“ ist beziehungsweise sein soll, hinterfragen. Die auf ein Jahr angelegte AIWG-Projektwerkstatt zielte darauf ab, nachzufragen, inwieweit Konzepte von Kanon und Zensur helfen können, die islamische Ideen- und Theologiegeschichte vor dem Hintergrund des jüngeren Forschungsdiskurses aus einer frischen Perspektive zu betrachten und zu konzeptualisieren. Da sich in der Geschichte des Islams keine theologienormierende Institution gebildet hat, wird die Perspektive parallel existierender Kanone sowie systemimmanenter Zensurmechanismen der Komplexität der islamischen Ideengeschichte gerecht und ermöglicht es, regionale Entwicklungen isoliert zu betrachten.
Die 27 aktiven Teilnehmer_innen der Konferenz setzten diese Idee Anfang Oktober erfolgreich um, indem sie mit ihren Fallstudien auf spezifische Aspekte von Kanonisierungs- und Zensurmechanismen eingingen. Dabei wurden zum einen neue und klärungsbedürftige Fragen aufgeworfen und zum anderen grundsätzlich demonstriert, welches Potential die Perspektive der Kanonforschung für ein besseres Verständnis der islamischen Ideen- und Theologiegeschichte haben kann.
Kanonisierungsprozesse im islamischen Recht und in der Theologie
Die Konferenz wurde in fünf thematische Felder eingeteilt, in denen die Vorträge eingeordnet werden konnten. Das erste Feld befasste sich mit Kanonisierungsprozessen im islamischen Recht und der Theologie. Hier zeigten die Vortragenden Hakkı Arslan (Münster), Jens Bakker (Osnabrück), Claudia Seise (Berlin), Mohamad Sobirin (Java) sowie Massoud Vahedi (Toronto) eindrücklich, wie stark Kanonisierungs- und Zensurprozessen von Institutionen auf der einen und politischen Interessen auf der anderen Seite beeinflusst sein können. In den Fallstudien wurde detailliert dargestellt, wie rechtliche und theologische Normen innerhalb der Disziplinen über einen längeren Zeitraum angepasst oder durch ein stabiles Institutionssystem konserviert wurden. Darüber hinaus wurde deutlich, dass es häufig äußere Faktoren waren, die Akteur_innen dazu veranlassten, Normen weiterzuentwickeln, sich auf Vergangenes zu berufen, Tradiertes zu konservieren oder als für die Gesellschaft und das Gemeinwohl störend empfundene Normen und Ideen zu zensieren.
Welche Rolle spielen Sprache und Übersetzung in Kanonisierungsprozessen?
Im zweiten Themenfeld widmeten sich die Vortragenden dem Aspekt von Sprache und Übersetzung. Nihad Dostević (Sarajevo), Ghassan El Masri (Berlin), Olav Elgvin (Bergen), Muhammad Vasil (Hyderbad) und Ömer Koçyiğit (Istanbul) beschäftigten sich unter anderem damit, wie Wissensbestände aus dem Arabischen in die Umgangssprache oder in eine ganz neue Sprache (Norwegisch, Malayalam und Türkisch) transferiert werden. Den Vortragenden ging es vor allem darum, aufzuzeigen, wie sich die Bedeutung des Textes verändert, welchen Einfluss der Übersetzer bei der Wortwahl und der Auswahl des Inhalts und der Schriften hat und welchen Einfluss auch der Buchdruck oder Verlage auf die Verbreitung und Etablierung von Wissensbeständen haben.
Wissensbestände werden gesellschaftlich ausgehandelt
Die Tatsache, dass Wissensbestände gesellschaftlich ausgehandelt werden und damit über die Kanonisierung sowie Zensur von Ideen und Normen bestimmen können, wurde im dritten Themenbereich aufgegriffen und ausgeführt. Hier legten Almila Akca (Berlin), Johannes Rosenbaum (Bamberg) und Besnik Sinani (Berlin) Fallstudien vor, die eindrucksvoll zeigten, dass diese Aushandlungsprozesse soziale Ereignisse sind und daher der soziale Kontext in besonderem Maße berücksichtigt werden muss. Dies gilt gleichermaßen für die Konstruktion von einem „wahren Islam“ in Abgrenzung zu einem „Islam der Vorväter“ in deutschen Moscheen, wie auch für Reformansätze und innerdisziplinäre Kritik in Indien oder Saudi-Arabien.
Rezeptionsgeschichte entscheidet über Kanonizität
Kanonisierung sowie Zensur können überwiegend auch als Teil von Rezeptionsgeschichte verstanden werden. Diese Perspektive verdeutlicht im Besonderen, dass Kanonisierungs- und Zensurmechanismen häufig den Aspekt der Nachzeitigkeit aufweisen und von Faktoren der rezipierenden und nicht der Ursprungsgemeinschaft abhängen. Mohammad Gharaibeh (Berlin), Philipp Bruckmayr (Wien), Ayyoob Rahman (Hyderbad), Yasir Qadhi (Richardson), Güllü Yildiz (Istanbul), Aslisho Qurboniev (London), Matthew Ingalls (Dubai) und Sara Omar (Washington) konnten dies anschaulich im vierten Themenfeld demonstrieren. Sie zeigten deutlich, dass zum einen die Auswahl von ‚relevanten‘ und ‚normativen‘ Ideen stark von den Interessen und Umständen der Akteur_innen abhängt und sich nicht aus der Erforschung der Ursprungszeit der Ideen heraus erklären lassen. Zum anderen wurde deutlich, dass es darüber hinaus zweitrangig zu sein scheint, was die ursprünglichen Autor_innen und Autoritäten mit ihren Werken eigentlich aussagen wollten. Vielmehr werden sie als normativ geltende Autoritäten genutzt, um eigene Positionen zu legitimieren. Über Interpretationsversuche und Kommentare werden dafür die eigenen Positionen auf die Werke früherer Gelehrte projiziert.
Zensurprozesse verlaufen häufig ähnlich
Das fünfte und letzte Themenfeld nahm den Aspekt der Zensur stärker in den Mittelpunkt. Entsprechend ging es bei den Beiträgen von Livnat Holtzman und Miriam Ovadia (Tel Aviv), Binyamin Lawal (Berlin) und Jörg Imran Schröter (Karlsruhe) darum, wie bestimmte Personenkreise, Institutionen oder politischen Akteur_innen Ideen und Werke zensierten. Trotz der unterschiedlichen Kontexte der Fallbeispiele (Kairo im 14. bis 15. Jahrhundert, Marokko und Saudi-Arabien sowie Nigeria im 19. und 20. Jahrhundert) war zu beobachten, dass sich Mechanismen der Zensur ähnelten und entweder über institutionelle oder soziale Mechanismen durchgesetzt oder zumindest unterstützt wurden.
Die Konferenz hat insgesamt sehr deutlich gezeigt, wie groß das Potential der Kanon- und Zensurforschung für die Islamische Ideen- und Theologiegeschichte ist. Damit regt sie aber auch vor allem die Frage an, ob es nicht unlängst Zeit ist, etablierte Narrative der Erzählung von Theologiegeschichte zu überdenken. Hier müssten vor allem solche Narrative hinterfragt werden, die von bereits kanonisierten Konzepten ausgehend die Entwicklung der Theologie teleologisch erzählen. Weitere Fallstudien aus der Perspektive von Kanon und Zensur müssen diesen Narrativen gegenübergestellt werden. Die Ergebnisse der Konferenz, die in einer Publikation festgehalten werden, können daher nur ein erster Schritt sein. Weitere Ergebnisse der AIWG-Projektwerkstatt „Kanon und Zensur“ werden neben der geplanten Publikation auch durch ausgewählte Interviews und Kurzstatements der Vortragenden der Öffentlichkeit zugänglich sein.
Mehr zur Projektwerkstatt ist hier zu finden.