Theologie, Recht und Ethik im Islam
Am 01. März 2022 haben sich die beiden AIWG Shortterm-Forschungsgruppen in Frankfurt am Main getroffen, um sich erstmals über Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Projekte auszutauschen. Die 14 Wissenschaftler_innen diskutierten auf dem Workshop ihre Forschungsergebnisse auf inhaltlicher Ebene sowie die Umsetzung und Konzeption ihrer jeweiligen Projekte.
Die Gruppe „Zur Dynamik der Tradition“ unter der Leitung von Prof. Dr. Maha El-Kaisy Friemuth aus Erlangen-Nürnberg sowie Prof. Dr. Idris Nassery und Prof. Dr. Muna Tatari aus Paderborn widmet sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Theologie im Wandel der Zeit. Einen ähnlichen inhaltlichen Zuschnitt hat das Projekt „Wege zu einer Ethik“ unter der Leitung von Prof. Dr. Rana Alsoufi von der Universität Frankfurt sowie Prof. Dr. Serdar Kurnaz und Prof. Dr. Mira Sievers von der Humboldt Universität zu Berlin, die am Beispiel konkreter islamrechtlicher Themen wie Ehe, Polygamie, Homosexualität und Gender historische Bezugspunkte für moderne islamrechtliche Diskurse untersuchen.
Prof. Dr. Bekim Agai, Direktor der AIWG, eröffnete das Programm mit einem Grußwort an beide Gruppen. Er bedankte sich für die engagierte Arbeit in den Projekten und erläuterte, wie sie zur Konsolidierung der islamisch-theologischen Studien und zur Versachlichung der islam-bezogenen Debatten beitragen. Während das Projekt „Wege zu einer Ethik“ in seiner Konzeption einen starken Schwerpunkt auf den Wissenstransfer in die muslimische Zivilgesellschaft gelegt hat, fokussiert sich das Projekt „Zur Dynamik der Tradition“ eher darauf, eine Grundlage für eine neue Kontextualisierung der klassisch islamischen Jurisprudenz zu schaffen.
Die Shortterm-Forschungsgruppe „Zur Dynamik der Tradition“ machte bei den Vorträgen den Anfang. Dr. Mohammed Abdelrahem vom Standort Erlangen-Nürnberg zeichnete im ersten Schritt den Einfluss der Muʿtazila Bewegung auf die islamische Rechtslehre nach, um im zweiten Schritt der Frage nachzugehen, wie Ethik und Vernunft im Rechtsdiskurs miteinander verknüpft werden (können).
Dr. Abdul Rehman Mustafa aus Paderborn stellte in seiner Forschung die Frage nach dem Raum, in dem ethische Werte ausgehandelt werden, und ob dieser religiös sei, der zugleich jedoch die Existenz eines nichtreligiösen Raums voraussetzt. Denn wenn ethische Werte aus religiösen Werten abgeleitet werden, stellt sich die Frage, welche Gültigkeit diese im säkularen Kontext haben (können).
Prof. Dr. Mira Sievers von der Shortterm-Forschungsgruppe „Wege zu einer Ethik“ warf bei der Vorstellung ihres Projekts zunächst die Frage auf, wie „islamisch“ Ethik sein könne, zumal dieses Konzept modern und eurozentrisch geprägt sei. Die klassische islamische Rechtslehre beschäftigte sich eher mit der Frage „Wie funktioniert Gebot und Verbot?“. Die Wege zu einer islamischen Ethik müssen also noch entdeckt werden. Für diese Suche hat sich die Projektgruppe vier konkrete ethische Fragen der Moderne vorgenommen, die vor historischem Hintergrund beleuchtet werden sollen. Diese betreffen moderne und vormoderne Konzepte von Ehe, Polygamie, Homosexualität und Geschlecht. Ausgewählt wurden diese Themen, weil sie etwa in der muslimischen Seelsorge die größte Relevanz für die heutige muslimische Zivilgesellschaft haben.
Die Doktorand_innen der Forschungsgruppe „Wege zu einer Ethik“, Fatma Ayyildiz und Bahattin Akyol von der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Selma Schwarz von der Goethe Universität Frankfurt beleuchteten klassische Diskurse zu Ehe, Polygamie und Geschlecht. Dr. Mehrdad Alipour von der Goethe Universität Frankfurt behandelte die Genealogie des modernen Konzepts von Homosexualität und folgerte, dass dieses nicht vergleichbar ist mit Vorstellungen von gleichgeschlechtlichem Verkehr in der Frühzeit des Islams. Eine Kernerkenntnis der Gruppe insgesamt lautet: Es ist besser, moderne und klassische Begriffe und Konzepte zu reflektieren, als diese miteinander gleichzusetzen.
Anhand der regen Diskussionen im Anschluss an die Vorträge waren einzelne Schnittpunkte deutlich erkennbar. Gegenstand der Untersuchung in beiden Projekten sind zum Beispiel klassische Rechtsdiskurse. Sie unterscheiden sich in der Methodik, in der Gewichtung der Transferfähigkeit ihrer Erkenntnisse und in der Auswahl der klassischen Gelehrten für ihre Recherchen. Was sie alle aber gemeinsam haben, ist das Interesse an Fragen wie dem islamischen Umgang mit Themen, die wichtig sind, aber nicht explizit in der Offenbarung behandelt wurden.
Über die AIWG Shortterm-Forschungsgruppen
Die auf zwei Jahre angelegten Shortterm-Forschungsgruppen ermöglichen die Zusammenarbeit von Wissenschaftler_innen verschiedener, an der AIWG beteiligten Standorten der islamisch-theologischen Studien zu Themen mit grundlegender Relevanz für das Fach. Sie zielen darauf ab, den Erkenntnisstand fachrelevanter, interdisziplinär anschlussfähiger und transferfähiger Themen und Fragestellungen der islamisch-theologischen Studien standortübergreifend zu erhöhen.
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