Kann die Islamische Theologie eine Brücke zwischen theozentrischem und anthropozentrischem Weltbild schlagen?
Wie verhält sich der Glaube zur Rationalität des modernen Denkens? Und wie kann die Islamische Theologie die Konzepte des theozentrischen und anthropozentrischen Weltbildes versöhnen? Über diese und andere Fragen diskutierten die Teilnehmenden des ersten digitalen Reading Weekends der AIWG Anfang Oktober. Grundlage für die Diskussion waren Texte des Religionsphilosophen Muhammad Iqbal und des Religionswissenschaftlers William C. Chittick.
Organisiert hatten das Reading Weekend mit dem Titel „Das theo- und anthropozentrische Weltbild in der Begegnung: Perspektiven erfahrungsbezogener Theologie in der modernen Gesellschaft“ Florian A. Lützen (Universität Hamburg), Ruggero Vimercati Sanseverino (Universität Tübingen) und Daniel Roters (Universität Münster). Zentrales Anliegen des Reading Weekends war es, das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne zu thematisieren.
Die Diskussionsgrundlage für das zweitägige Reading Weekend bildeten die folgenden Texte:
- Muhammad Iqbal, Die Wiederbelebung des Religiösen Denkens im Islam, Verlag Hans Schiler, 2003.
- William C. Chittick, Science of the Cosmos, Science of the Soul: The Pertinence of Islamic Cosmology in the Modern World, Oneworld, 2007.
Nach einer kurzen Begrüßung folgte eine einleitende Präsentation von Florian Lützen, die um die Leitfragen kreiste, die an die Texte von Iqbal und Chittick gestellt werden sollten:
- Wie kann die Islamische Theologie die Konzepte des theozentrischen und anthropozentrischen Weltbildes versöhnen? Welche Mittel und Wege schlägt der Autor dafür vor?
- Kann der Glaube in bestehende Muster der Philosophie eingefügt werden und wenn ja, auf welche Weise?
- Welche Transferleistungen sollten Studierende der Theologie, der Seelsorge oder der Religionspädagogik erlernen, um dem Spannungsfeld Tradition und Moderne in Zukunft besser Rechnung tragen zu können?
Die Problemstellung, die im Reading Weekend aufgeworfen wurde, kann auf folgende Weise umrissen werden: Es besteht eine Ambivalenz zwischen einem rein theozentrischen Ansatz, der mit dem Makel der postulierten Realitätsferner einherkommt. Das reine anthropozentrische Weltbild tut wiederum dem Sprechen über Gott Abbruch. In Reinform beziehen beide Ansätze die Lebenswirklichkeit gläubiger Menschen nicht ausreichend ein. Das Reading Weekend legte bei der Textlektüre daher ein besonderes Augenmerk auf das Menschenbild und fragte nach: Wie kann das erlebte Spannungsfeld zwischen intellektueller Beschäftigung und praktischer Theologie klarer benannt werden beziehungsweise wie können Intellekt und Glaube versöhnt werden?
Nach der Einleitung gab Daniel Roters eine Einführung in das Werk und Leben des Religionsphilosophen Muhammad Iqbal (gest. 1938). Iqbal hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine Neuverhandlung des muslimischen Denkens gefordert, wie es das Wort „Reconstruction“ (dt. Wiederbelebung) im Titel seines Buches andeutet.
Am zweiten Tag des Reading Weekends stand der Text William C. Chitticks, Professor für Religionswissenschaft an der Stony Brook University (SUNY) im Fokus. Der Text von William Chittick wurde mit einem Beitrag von Florian Lützen eingeführt, der zuerst den Autor und anschließend den Text einleitete. Chittick widmet sich dort der Frage, wie das Erbe der Islamischen Theologie auf gute Weise in die Moderne überführt werden kann.
Fazit und Ausblick
Trotz des digitalen Rahmens wurde schnell festgestellt, dass die Texte und das Thema viel Gesprächsstoff bieten, was zu einem konzentrierten und regen Austausch unter den Teilnehmenden führte. Alles in allem konnte festgestellt werden, dass das Thema von der Begegnung des theo- und anthropozentrischen Weltbilds beträchtliches Potential in sich trägt und eine Schwachstelle der islamisch-theologischen Studien an der Universität offenlegt.
Trotz der Unterschiedlichkeit der Autoren weisen beide Texte deutliche Gemeinsamkeiten auf. Eine Kritik, die beide anführen, ist beispielsweise der mangelnde Wille vonseiten muslimischer Intellektueller, sich auf die drängenden Fragen einzulassen, die die Umwälzungen der Moderne mit sich gebracht haben. Auch stimmen beide Autoren darin überein, dass für eine Belebung des muslimischen Denkens der Glaube eine entscheidende Rolle spielen muss. Wie dieser aber mit dem modernen Denken verbunden werden kann, variiert: Während Iqbal eine Versöhnung von Ratio und Glaube anstrebt, konzentriert sich Chittick auf die Methode, wie Glaube im 21. Jahrhundert gedacht werden kann.
Zum Schluss der Veranstaltung wurde zudem darüber diskutiert, wie heutigen Studierenden dieses Themenfeld nahegebracht werden könnte. Die Notwendigkeit ist offensichtlich, da – wie es auch in der Religionspädagogik thematisiert wird – eine Brücke geschaffen werden muss zwischen universitärer, intellektueller Auseinandersetzung und der Übertragung der Inhalte in die Praxis. Dies legt nahe, weitere Veranstaltungen zu diesem Thema ins Auge zu fassen.
Über das AIWG Reading Weekend
Die AIWG-Reading Weekends ermöglichen Angehörigen der islamisch-theologischen Studien, sich ein Wochenende lang intensiv mit Autor_innen, Werken, Theorien und Methoden auseinanderzusetzen, die relevant für grundlegende Forschungs- und Diskursfelder des Faches sind. Weitere Informationen finden Sie hier.